Technokratie

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Die Technokratie ist eine Regierungsform, bei der der oder die Entscheidungsträger auf der Grundlage ihres Fachwissens in einem bestimmten Zuständigkeitsbereich ausgewählt werden, insbesondere im Hinblick auf wissenschaftliche oder technische Kenntnisse. Dieses System steht in ausdrücklichem Gegensatz zur repräsentativen Demokratie, die davon ausgeht, dass gewählte Vertreter die primären Entscheidungsträger in der Regierung sein sollten, obwohl es nicht unbedingt die Abschaffung gewählter Vertreter bedeutet. Die Entscheidungsträger werden auf der Grundlage von Fachwissen und Leistung ausgewählt und nicht nach politischer Zugehörigkeit, parlamentarischen Fähigkeiten oder Beliebtheit.

Der Begriff Technokratie wurde ursprünglich verwendet, um die Anwendung der wissenschaftlichen Methode zur Lösung sozialer Probleme zu bezeichnen. In ihrer extremsten Form stellt die Technokratie eine ganze Regierung dar, die als technisches oder ingenieurwissenschaftliches Problem geführt wird und meist hypothetisch ist. In der praktischen Anwendung ist die Technokratie ein Teil der Bürokratie, der von Technologen geleitet wird. Eine Regierung, in der gewählte Beamte Experten und Fachleute mit der Verwaltung einzelner Regierungsfunktionen und der Empfehlung von Gesetzen beauftragen, kann als technokratisch bezeichnet werden. Einige Verwendungen des Wortes beziehen sich auf eine Form der Leistungsgesellschaft, in der die Fähigsten das Sagen haben, angeblich ohne den Einfluss besonderer Interessengruppen. Kritiker sind der Meinung, dass eine "technokratische Kluft" eine Herausforderung für partizipatorischere Demokratiemodelle darstellt. Sie beschreiben diese Kluft als "Wirksamkeitslücke, die zwischen Regierungsorganen, die technokratische Prinzipien anwenden, und Mitgliedern der Öffentlichkeit, die zur Entscheidungsfindung der Regierung beitragen wollen, besteht".

Unter Technokratie wird heute eine Form der Regierung oder Verwaltung verstanden, in der alle Entscheidungen auf vermeintlich sozial neutralem wissenschaftlichem und technischem Wissen aufbauen. Technokraten gehen von der Annahme aus, es gäbe ideologie- und interessenfreie Wege, für das Gemeinwohl und für staatliche Stabilität zu sorgen. Technokratische Kabinette sind meistens Vertreter nicht parlamentarisch gestützter Regierungen. Oppositionsbewegungen der Zivilgesellschaft sowie NGOs kritisieren Technokratien gerade wegen ihrer häufigen Klientelpolitik.

Der Begriff leitet sich ab von dem altgriechisch τέχνη téchne, deutsch ‚Fertigkeit‘ und κράτος kratos ‚Herrschaft‘. Eine korrekte Übersetzung wäre demnach „Herrschaft der Sachverständigen“. Der Begriff ist jedoch eine Neuschöpfung aus dem 20. Jahrhundert und eng mit der Technokratischen Bewegung in den USA der 1920er Jahre wie der damals verbreiteten Krise der Demokratie und der von der Sowjetunion und deren Planwirtschaft ausgehenden, anfänglichen Faszination verbunden. Umgangssprachlich wird als Technokrat auch abwertend eine Person bezeichnet, die eine rational-technische Weltsicht hat und einen Interessenausgleich sowie etwa soziologische oder psychologische Aspekte als „weiche Faktoren“ eines Themas vernachlässigt.

Geschichte des Begriffs

Der Begriff Technokratie leitet sich von den griechischen Wörtern τέχνη, tekhne für Geschicklichkeit und κράτος, kratos für Macht ab, wie bei der Regierungsführung oder der Herrschaft. William Henry Smyth, einem kalifornischen Ingenieur, wird gewöhnlich die Erfindung des Wortes Technokratie im Jahr 1919 zugeschrieben, um "die Herrschaft des Volkes, die durch die Vermittlung ihrer Diener, der Wissenschaftler und Ingenieure, wirksam gemacht wird", zu beschreiben, obwohl das Wort bereits zuvor mehrfach verwendet wurde. Smyth verwendete den Begriff Technokratie in seinem 1919 erschienenen Artikel "'Technocracy'-Ways and Means to Gain Industrial Democracy" in der Zeitschrift Industrial Management (57). Smyths Verwendung bezog sich auf die industrielle Demokratie: eine Bewegung zur Einbeziehung der Arbeitnehmer in die Entscheidungsfindung durch bestehende Unternehmen oder eine Revolution.

In den 1930er Jahren wurde der Begriff Technokratie durch den Einfluss von Howard Scott und der von ihm gegründeten Technokratie-Bewegung zu einer Bezeichnung für eine "Regierung durch technische Entscheidungsfindung", bei der ein Energiemaßstab für den Wert verwendet wird. Scott schlug vor, das Geld durch Energiezertifikate zu ersetzen, die in Einheiten wie Ergs oder Joule ausgedrückt werden und in ihrer Gesamtsumme einem angemessenen nationalen Netto-Energiebudget entsprechen, das dann je nach Verfügbarkeit der Ressourcen gleichmäßig auf die nordamerikanische Bevölkerung verteilt wird.

Im allgemeinen Sprachgebrauch findet sich der abgeleitete Begriff Technokrat. Das Wort Technokrat kann sich auf jemanden beziehen, der aufgrund seines Wissens eine Regierungsautorität ausübt, oder auf "ein Mitglied einer mächtigen technischen Elite" oder auf "jemanden, der die Vorherrschaft technischer Experten befürwortet". McDonnell und Valbruzzi definieren einen Premierminister oder Minister als Technokraten, wenn er "zum Zeitpunkt seiner Ernennung in die Regierung noch nie ein öffentliches Amt unter dem Banner einer politischen Partei bekleidet hat, kein offizielles Mitglied einer Partei ist und über anerkannte überparteiliche politische Fachkenntnisse verfügt, die für seine Rolle in der Regierung unmittelbar relevant sind". In Russland hat der russische Präsident häufig Minister ernannt, die über technisches Fachwissen außerhalb der politischen Kreise verfügten, und diese wurden als "Technokraten" bezeichnet.

Vorläufer

Bevor der Begriff Technokratie geprägt wurde, wurden technokratische oder quasi-technokratische Ideen, die eine Regierung durch technische Experten vorsehen, von verschiedenen Personen propagiert, vor allem von frühsozialistischen Theoretikern wie Henri de Saint-Simon. Dies drückte sich in dem Glauben an das Eigentum des Staates an der Wirtschaft aus, wobei die Funktion des Staates von einer reinen philosophischen Herrschaft über die Menschen in eine wissenschaftliche Verwaltung der Dinge und eine Leitung der Produktionsprozesse unter wissenschaftlichem Management umgewandelt wurde. Nach Daniel Bell:

"St. Simons Vision der Industriegesellschaft, eine Vision der reinen Technokratie, war ein System der Planung und rationalen Ordnung, in dem die Gesellschaft ihre Bedürfnisse spezifizieren und die Produktionsfaktoren organisieren würde, um sie zu erfüllen."

Unter Berufung auf die Ideen von St. Simon kommt Bell zu dem Schluss, dass die "Verwaltung der Dinge" durch rationales Urteilsvermögen das Kennzeichen der Technokratie ist.

Alexander Bogdanow, ein russischer Wissenschaftler und Gesellschaftstheoretiker, nahm ebenfalls eine Konzeption des technokratischen Prozesses vorweg. Sowohl Bogdanows Belletristik als auch seine politischen Schriften, die sehr einflussreich waren, legen nahe, dass er davon ausging, dass eine kommende Revolution gegen den Kapitalismus zu einer technokratischen Gesellschaft führen würde.

Von 1913 bis 1922 widmete sich Bogdanow der Abfassung einer langen philosophischen Abhandlung mit originellen Ideen, Tektologie: Universelle Organisationswissenschaft. Die Tektologie nahm viele grundlegende Ideen der Systemanalyse vorweg, die später von der Kybernetik erforscht wurden. In der Tektologie schlug Bogdanov vor, alle sozialen, biologischen und physikalischen Wissenschaften zu vereinen, indem er sie als Beziehungssysteme betrachtete und nach den Organisationsprinzipien suchte, die allen Systemen zugrunde liegen.

Die platonische Idee der Philosophenkönige stellt wohl eine Art Technokratie dar, in der der Staat von denjenigen geführt wird, die über Fachwissen verfügen, in diesem Fall über das Wissen über das Gute und nicht über wissenschaftliche Kenntnisse. Die platonische Forderung lautet, dass diejenigen, die das Gute am besten verstehen, befugt sein sollten, den Staat zu führen, da sie ihn auf den Weg des Glücks führen würden. Die Kenntnis des Guten unterscheidet sich zwar von der Kenntnis der Wissenschaft, doch werden die Herrscher hier auf der Grundlage eines gewissen technischen Verständnisses und nicht auf der Grundlage eines demokratischen Mandats ernannt.

Merkmale

Merkmale der Technokratie sind:

  • Fortschritt und Wissenswachstum sind Zielvorstellung, unter anderem deshalb wird tendenziell die herkömmliche politische Diskussion über Verteilungsgerechtigkeit vernachlässigt.
  • Entscheidungsmacht wird von demokratisch gewählten politischen Institutionen in ausschließlich fachgebunden arbeitende Zirkel, sog. „Expertenkommissionen“ verlagert.
  • Im Vordergrund steht die rationale Planung und Durchführung von Vorhaben. Die Aufmerksamkeit wird auf Mittel und Wege konzentriert, nicht auf demokratische Entscheidung über die Ziele – Manager, Wissenschaftler, Ingenieure und andere qualifizierte Personen ersetzen gewählte Repräsentanten.
  • Argumentationsmuster verweisen auf alternativlose Sachzwänge zur Befriedigung der in Frage stehenden Bedürfnisse, die mit technisch-wissenschaftlichen Methoden gelöst werden sollen.

Technokraten sind Personen mit einer technischen Ausbildung und einem technischen Beruf, die der Ansicht sind, dass viele wichtige gesellschaftliche Probleme durch den Einsatz von Technologie und verwandten Anwendungen gelöst werden können. Der Verwaltungswissenschaftler Gunnar K. A. Njalsson stellt die These auf, dass Technokraten in erster Linie von ihrer kognitiven "Problemlösungsmentalität" und nur zum Teil von bestimmten Berufsgruppeninteressen angetrieben werden. Ihre Aktivitäten und der zunehmende Erfolg ihrer Ideen werden als ein entscheidender Faktor für die moderne Verbreitung von Technologie und das weitgehend ideologische Konzept der "Informationsgesellschaft" angesehen. Technokraten lassen sich von "Ökonokraten" und "Bürokraten" unterscheiden, deren Problemlösungsdenken sich von dem der Technokraten unterscheidet.

Beispiele

Im Jahr 2013 bezeichnete eine Bibliothek der Europäischen Union in einem Briefing über ihre legislative Struktur die Kommission als "technokratische Behörde", die das "legislative Monopol" über den EU-Gesetzgebungsprozess innehat. Das Briefing legt nahe, dass dieses System, das das Europäische Parlament zu einem Veto- und Änderungsorgan macht, "ursprünglich im Misstrauen gegenüber dem politischen Prozess im Nachkriegseuropa verwurzelt" war. Dieses System ist ungewöhnlich, da das alleinige legislative Initiativrecht der Kommission eine Macht ist, die normalerweise den Parlamenten zusteht.

Die ehemalige Regierung der Sowjetunion wurde als Technokratie bezeichnet. Sowjetische Führer wie Leonid Breschnew hatten oft einen technischen Hintergrund. Im Jahr 1986 waren 89 % der Mitglieder des Politbüros Ingenieure.

Die führenden Köpfe der Kommunistischen Partei Chinas waren früher meist Ingenieure. Erhebungen in den Stadtverwaltungen von Städten mit mindestens 1 Million Einwohnern in China haben ergeben, dass über 80 % der Regierungsmitarbeiter eine technische Ausbildung hatten. Im Rahmen der Fünfjahrespläne der Volksrepublik China wurden Projekte wie das Nationale Fernstraßensystem, das chinesische Hochgeschwindigkeitsbahnsystem und der Drei-Schluchten-Damm fertig gestellt. Unter dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas, Xi Jinping, wurden die Ingenieure jedoch größtenteils durch Politikexperten, Wirtschaftswissenschaftler und Theoretiker ersetzt, wobei Xi selbst der einzige im derzeitigen Ständigen Ausschuss des Politbüros ist, der einen Ingenieurabschluss hat.

Mehrere Regierungen in europäischen parlamentarischen Demokratien wurden aufgrund der Beteiligung nicht gewählter Experten ("Technokraten") in führenden Positionen als "technokratisch" bezeichnet. Seit den 1990er Jahren gab es in Italien in Zeiten wirtschaftlicher oder politischer Krisen mehrere solcher Regierungen (auf Italienisch: governo tecnico), darunter auch diejenige, in der der Wirtschaftswissenschaftler Mario Monti einem Kabinett nicht gewählter Fachleute vorstand. Der Begriff "technokratisch" wurde auf Regierungen angewandt, bei denen ein Kabinett aus gewählten Berufspolitikern von einem nicht gewählten Premierminister geleitet wird, wie im Fall der griechischen Regierung von 2011-2012, die von dem Ökonomen Lucas Papademos geführt wurde, und der tschechischen Übergangsregierung von 2009-2010, die von dem obersten Statistiker des Landes, Jan Fischer, geleitet wurde. Im Dezember 2013 einigten sich die politischen Parteien in Tunesien im Rahmen des vom tunesischen Quartett für den nationalen Dialog vermittelten nationalen Dialogs auf die Einsetzung einer Technokratenregierung unter der Leitung von Mehdi Jomaa.

In dem Artikel "Technokraten: Minds Like Machines" heißt es, dass Singapur vielleicht das beste Aushängeschild für die Technokratie ist: Die politischen und fachlichen Komponenten des dortigen Regierungssystems scheinen vollständig miteinander verschmolzen zu sein. Dies wurde in einem 1993 in "Wired" erschienenen Artikel von Sandy Sandfort unterstrichen, in dem er beschreibt, dass das informationstechnische System der Insel schon zu diesem frühen Zeitpunkt effektiv intelligent war.

Technik

In Anlehnung an Samuel Haber argumentiert Donald Stabile, dass die Ingenieure in den neuen kapitalistischen Unternehmen des späten 19. Die profitorientierten, nicht-technischen Manager der Unternehmen, in denen die Ingenieure arbeiten, setzen aufgrund ihrer Wahrnehmung der Marktnachfrage den Projekten, die die Ingenieure durchführen wollen, oft Grenzen.

Die Preise aller Inputs schwanken mit den Marktkräften und bringen so die sorgfältigen Berechnungen des Ingenieurs durcheinander. Infolgedessen verliert der Ingenieur die Kontrolle über seine Projekte und muss seine Pläne ständig überarbeiten. Um die Kontrolle über die Projekte zu behalten, muss der Ingenieur versuchen, diese externen Variablen zu kontrollieren und sie in konstante Faktoren umzuwandeln.

Die Bewegung der Technokratie

Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe Thorstein Veblen war ein früher Befürworter der Technokratie und gehörte ebenso wie Howard Scott und M. King Hubbert (letzterer entwickelte später die Theorie des Ölfördermaximums) der Technical Alliance an. Veblen glaubte, dass die technologischen Entwicklungen schließlich zu einer sozialistischen Neuorganisation der Wirtschaft führen würden. Veblen sah den Sozialismus als eine Zwischenphase in einem fortlaufenden evolutionären Prozess in der Gesellschaft, der durch den natürlichen Verfall des unternehmerischen Systems und den Aufstieg der Ingenieure herbeigeführt werden würde. Daniel Bell sieht eine Affinität zwischen Veblen und der Technokratie-Bewegung.

Im Jahr 1932 gründeten Howard Scott und Marion King Hubbert Technocracy Incorporated und schlugen vor, Geld durch Energiezertifikate zu ersetzen. Die Gruppe vertrat die Ansicht, dass unpolitische, rationale Ingenieure mit der Autorität ausgestattet werden sollten, eine Wirtschaft in ein thermodynamisch ausgewogenes Verhältnis von Produktion und Verbrauch zu bringen und damit Arbeitslosigkeit und Schulden zu beseitigen.

Die Technokratie-Bewegung war in den USA Anfang der 1930er Jahre, während der Großen Depression, für kurze Zeit populär. Mitte der 1930er Jahre ließ das Interesse an dieser Bewegung nach. Einige Historiker haben diesen Rückgang auf den Aufstieg von Roosevelts New Deal zurückgeführt.

Der Historiker William E. Akin lehnt diese Schlussfolgerung ab. Stattdessen argumentiert Akin, dass der Niedergang der Bewegung Mitte der 1930er Jahre auf das Versagen der Technokraten zurückzuführen ist, eine "tragfähige politische Theorie zur Erreichung von Veränderungen" zu entwickeln. Akin geht davon aus, dass viele Technokraten weiterhin lautstark und unzufrieden waren und häufig mit Anti-New-Deal-Bestrebungen dritter Parteien sympathisierten.

Kritiken

Kritiker haben behauptet, dass eine "technokratische Kluft" zwischen einem Regierungsorgan, das in unterschiedlichem Maße von Technokraten kontrolliert wird, und den Mitgliedern der allgemeinen Öffentlichkeit besteht. Die technokratische Kluft ist eine "Effizienzlücke, die zwischen den Führungsgremien, die technokratische Grundsätze anwenden, und den Mitgliedern der Öffentlichkeit, die an der Entscheidungsfindung der Regierung mitwirken wollen, besteht". Die Technokratie privilegiert die Meinungen und Standpunkte technischer Experten und erhebt sie in eine Art Aristokratie, während sie die Meinungen und Standpunkte der breiten Öffentlichkeit marginalisiert.

Während große multinationale Technologiekonzerne (z. B. FAANG) ihre Marktkapitalisierung und Kundenzahl steigern, sehen Kritiker der technokratischen Regierung im 21. Jahrhundert ihre Manifestation in der amerikanischen Politik nicht als einen "autoritären Alptraum der Unterdrückung und Gewalt", sondern eher als eine éminence grise: eine demokratische Kabale, die von Mark Zuckerberg und der gesamten Kohorte der "Big Tech"-Führungskräfte geleitet wird. Es wird nicht erklärt, wie Mark Zuckerberg oder andere große Tech-Unternehmenschefs (die nicht vom Volk gewählt werden) eine "demokratische" Kabale bilden können. In seinem 1982 in der Zeitschrift Technology and Culture erschienenen Artikel "The Technocratic Image and the Theory of Technocracy" schreibt John G. Gunnell in weiser Voraussicht: "...die Politik unterliegt zunehmend dem Einfluss des technologischen Wandels", wobei er sich speziell auf den Beginn des langen Booms und die Entstehung des Internets nach der Rezession von 1973-1975 bezieht. Gunnel führt drei Analyseebenen an, die den politischen Einfluss der Technologie beschreiben: 1) "Politische Macht tendiert dazu, sich auf technologische Eliten zu konzentrieren"; 2) "Technologie ist autonom geworden" und damit undurchdringlich für politische Strukturen; und 3) "Technologie (und Wissenschaft) stellen eine neue legitimierende Ideologie dar" und triumphieren über "Tribalismus, Nationalismus, den Kreuzzugsgeist in der Religion, Bigotterie, Zensur, Rassismus, Verfolgung, Ein- und Auswanderungsbeschränkungen, Zölle und Chauvinismus". Auf jeder der drei analytischen Ebenen prophezeit Gunnell die Unterwanderung politischer Prozesse durch die Technologie und weist darauf hin, dass die Verflechtung der beiden (d. h. Technologie und Politik) unweigerlich zu einer Machtkonzentration bei denjenigen führen wird, die über eine fortgeschrittene technologische Ausbildung verfügen, nämlich bei den Technokraten. Vierzig Jahre nach der Veröffentlichung von Gunnells Schriften sind Technologie und Regierung im Guten wie im Schlechten zunehmend miteinander verwoben. Facebook selbst kann als technokratischer Mikrokosmos, als "technokratischer Nationalstaat", betrachtet werden, mit einer cyberräumlichen Bevölkerung, die die jeder terrestrischen Nation übertrifft. Im weiteren Sinne befürchten Kritiker, dass der Aufstieg sozialer Mediennetzwerke (z. B. Twitter, YouTube, Instagram, Pinterest) in Verbindung mit dem "Rückgang des Engagements im Mainstream" den "vernetzten jungen Bürger" dem unauffälligen Zwang und der Indoktrination durch algorithmische Mechanismen aussetzt, und, weniger heimtückisch, der Überzeugung bestimmter Kandidaten, die vorwiegend auf dem "Engagement in den sozialen Medien" beruht.

Herkunft

Der Begriff wurde im Ausgang des Ersten Weltkriegs in den USA geprägt, wobei Konzepte des amerikanischen Soziologen Thorstein Veblen und von prominenten Mitgliedern der Technokratischen Bewegung wegweisend waren. Veblen argumentierte, dass Ingenieure die Leitung jedes Staates übernehmen sollten, da sie am besten geeignet seien, kybernetische Systeme zu bedienen.

Die grundlegende Vorstellung ist aber wesentlich älter. Als technokratische Utopien können der „Sonnenstaat“ von Tommaso Campanella (1602) oder „New Atlantis“ von Francis Bacon (1627) gelten. Mit der Industrialisierung gewann die technokratische Utopie im 19. Jahrhundert eine neue, realitätsnähere Prägung. Henri de Saint-Simon und sein Schüler Auguste Comte haben im Sinne des Positivismus Gesellschaftsentwürfe formuliert, in denen der instrumentellen Vernunft ein fast uneingeschränktes Herrschaftsrecht zukam. Auch die politische Philosophie von Platon kann man als technokratisch verstehen.

Die von Thorstein Veblen, aber auch etwa von Walter Rautenstrauch (1880–1951) gegen Ende des Ersten Weltkriegs vertretene Vorstellung, Ingenieure würden das Gemeinwohl am besten verwalten, ist sowohl in den Kontext einer fundamentalen Krise des Kapitalismus einzurücken als auch auf die Russische Revolution zu beziehen. Die Technokratie der Zwischenkriegszeit, die sich in den USA unter Howard Scott als „Technocracy Inc.“ zu einer politischen Partei verdichtete, verstand sich als „dritter Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus. In Deutschland wurde dies Anfang der 1930er Jahre von Günther Bugge und anderen aufgegriffen, deren Technokratie-Bewegung aber 1933 mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten verboten wurde. Wichtige Ideologen des Nationalsozialismus wie Gottfried Feder nahmen in diesem Sinne technokratisches Gedankengut auf. Freilich sind technokratische Elemente auch tief im sowjetischen Modernisierungsprojekt verwurzelt, wie es Lenin am VIII. Sowjetkongress 1920 entwarf („Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“). Und auch der US-amerikanische „New Deal“ unter Franklin D. Roosevelt kann als technokratisches Vorhaben interpretiert werden.

Die technokratische Vorstellung, wirtschaftliche Entwicklung sei am erfolgreichsten durch mächtige Expertenstäbe zu realisieren, lag dem US-amerikanischen Wiederaufbauplan für Westeuropa nach 1945 zu Grunde (Marshall Plan). Technokratische Planung etablierte sich in der Folge unter dem Stichwort Planification insbesondere in Frankreich. Die französischen Planvorstellungen, die wesentlich von Jean Monnet konkretisiert wurden, bildeten ihrerseits ein wesentliches Grundelement für die Europäische Union. Technokratische Planung erhielt in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in allen westlichen Wohlfahrtsstaaten hohe Bedeutung. Sie wurde unter Wirtschaftsminister Karl Schiller selbst in der Bundesrepublik Deutschland wirksam, wo bisher der Ordoliberalismus prägend war.

In den 1950er Jahren wurde das Technokratiethema insbesondere in Frankreich durch Jean Meynaud (1914–1972) und Jacques Ellul aufgenommen, die den Verlust wertorientierter Handlungsoptionen angesichts einer sich eigendynamisch entwickelnden Technik beklagten. In Deutschland entwickelte sich Anfang der 1960er Jahre eine Technokratiedebatte, ausgehend von Helmut Schelskys Vortrag „Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation“. In diesem entwickelte er, anknüpfend an Arnold Gehlens Menschenbild, der den Menschen als Mangelwesen betrachtete, welcher diese Mängel mithilfe von Technik auszugleichen versuche, die Vorstellung eines "technischen Staates". Der Mensch habe in der modernen technisierten Welt ein neues Verhältnis zur Welt und zu seinen Mitmenschen entwickelt. Er spricht dabei von einer "universal gewordenen Technik", die sich auf alle Bereiche des Lebens ausdehne. Diese universale Technik folgt der Logik der höchsten Effizienz, welche nach und nach auch das Denken der Menschen erfasse. Dies hat jedoch Folgen für den Menschen: nun bestimmen die Mittel die Ziele und nicht mehr die Ziele die Mittel. Es entsteht also eine eigene Sachgesetzlichkeit, das heißt, jeder technische Erfolg schafft neue Probleme, die wieder mit Technik gelöst werden müssen. Dieser Sachzwang ersetzt dabei die Herrschaft von Menschen über Menschen. Daher bedarf es im Staat auch keiner demokratischen Partizipation mehr, denn „moderne Technik bedarf keiner Legitimität (…) solange sie optimal funktioniert“. Daraufhin sterbe der demokratische Staat ab und bleibe lediglich als leere Hülse zurück. Über diese Thesen entbrannte im Folgenden eine rege Diskussion, welche vor allem in der Zeitschrift "Atomzeitalter" ausgetragen wurde. In den 1960er Jahren haben sich, aufbauend auf der Kritik der instrumentellen Vernunft von Max Horkheimer, insbesondere Herbert Marcuse und Jürgen Habermas gegen die Anmaßung einer Technokratie gestellt. Wesentliche Beiträge zum Thema verfasste auch Hermann Lübbe. Spätestens Ende der 1980er Jahre kam die wissenschaftliche Technokratiedebatte in Deutschland jedoch zum Erliegen.

Technokratiedefinitionen

Das Technokratieproblem weist weit über seinen Entstehungszusammenhang hinaus. Insofern es nach dem Verhältnis von wissenschaftlich-technischer Rationalität und moderner Staatlichkeit fragt, ist es ein sehr ambivalentes Thema, dessen Aktualität bis heute besteht. Drei Definitionsebenen von Technokratie als Herrschaft sind zu unterscheiden:

Techniker
Politische Macht wird legitimiert durch Wissen und Expertise (im wissenschaftlich-technischen Sinn der europäischen Aufklärung)
Technik
Der politische Handlungsraum als Sphäre normativer Entscheide verringert sich im Zuge der Technisierung zunehmend. Technik gerät außer Kontrolle (Langdon Winner) und bringt schließlich den Bereich des Politischen insgesamt zum Verschwinden.
instrumentelle Vernunft
Eine spezifische Denkweise, die dem kapitalistischen Industriesystem dienlich ist, lenkt soziale Handlungen in allen Bereichen gesellschaftlicher Aktivität.

Von diesen drei Definitionsmustern leiten sich drei Theorietraditionen ab, die jeweils zustimmend-utopischen oder ablehnend-dystopischen Charakter besitzen:

Elitetheorien
die das Aufkommen einer fachkompetenten Expertenklasse in positiv oder negativ wertender Weise durchdenken. Nach Platon, Saint-Simon und Thorstein Veblen hat etwa Alfred Frisch das Potenzial einer reinen Experten-Regierung als wünschenswerte Zukunftsvision beschworen. Ablehnend stellten sich hingegen insbesondere Jean Meynaud, später auch Daniel Bell und John Kenneth Galbraith zu der Perspektive, dass Experten als Wissensträger in der entstehenden Informationsgesellschaft eine akzentuierte Machtposition einnehmen könnten.
Strukturtheorien
die der Eigendynamik der technischen Entwicklung in positiv oder negativ wertender Weise ein immenses Wirkungspotenzial auf die Gesellschaft zuschreiben. Positiv formuliert sind die Hoffnungen, soziale Probleme würden durch den technischen Fortschritt obsolet. Eine solche Argumentationsstruktur findet sich in den Schriften von Lenin. Ähnlich funktioniert aber auch die Argumentation von Bill Gates, der in „The Road Ahead“ 1995 den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, v. a. dem Internet, die Fähigkeit zusprach, einen „reibungslosen“ Sozialismus zu realisieren. Die negativen Versionen der Strukturtheorie sind zahlreich. Sie beklagen den Freiheitsverlust, mit dem der moderne Mensch wegen der zunehmenden Technisierung seiner Umwelt zu rechnen hat. Besonders wirksam waren die Formulierungen von Jacques Ellul, Helmut Schelsky und Herbert Marcuse.
Ideologiekritiken
die die Herrschaft der instrumentellen Vernunft auf das kapitalistische Industriesystem beziehen. Wichtigste Stimme in diesem Chor war Jürgen Habermas (Technik und Wissenschaft als „Ideologie“), 1969.

Weitere technokratie-kritische Stimmen

Neben Herbert Marcuse sind oder waren in Deutschland Martin Heidegger, Günther Anders, Gotthard Günther und Erich Fromm prominente Kritiker der Technokratie. International haben sich u. a. George Orwell (in seinen Essays über Faschismus: Technokratie sei Vorstufe des Faschismus), sein Freund Leopold Kohr, der Mitherausgeber seiner aktuellen Buchreihe Günther Witzany und aktuell Noam Chomsky in kritischer Weise über die Technokratie geäußert. Siehe auch: Gesellschaftskritik, Dystopie, Cyberpunk.

In der 68er-Bewegung wurde diese Kritik an der Technokratie auf breiter Basis aufgegriffen. Der Technokratie und dem mit ihr verbundenen rationalen Sachzwang-Denken wurden von Künstlern und Intellektuellen beispielsweise Konzepte wie Subjektivität, der individuelle Wunsch, Selbstverwirklichung und Demokratisierung (bis hin zur Wirtschaftsdemokratie, siehe Mai 68) entgegengestellt. Es gehört freilich zur Ambivalenz des Themas, dass auch die gesellschaftsverändernden Visionen der Neuen Linken nicht frei von technokratischen Aspekten waren.

Götz Aly und Susanne Heim beschreiben das Dritte Reich und die damit verbundenen Herrschaftspläne für Osteuropa des Generalplan Ost sowie die Vernichtung der europäischen Juden als das Resultat einer Expertokratie. So sei „Auschwitz [...] in hohem Maß die Folge einer gnadenlos instrumentalisierten Vernunft“ gewesen.

Eine differenzierte Position zur Technokratie nimmt Hermann Lübbe ein. Technokratie ist nach ihm dort geboten, wo durch eine Evidenz des Richtigen eine Versachlichung der Entscheidungssituation gegeben ist. Für rationale Politik ist dies zwingend so, weswegen Politik auf wissenschaftliche Beratung angewiesen ist. Würde Politik auf technokratische Elemente verzichten, so würde nur die Perspektive der Herrschaft von Menschen über Menschen bleiben. Auch Karl Popper kann nicht bedingungslos als Kritiker der Technokratie aufgefasst werden. In seinem Werk "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" vertritt er ein Politikkonzept, das gegen prophetische Ideologien gerichtet ist und stattdessen eine Sozialtechnologie des Stückwerks propagiert, die von falsifizierbaren, also wissenschaftlichen, Einsichten abhängig sein soll. Im Sinne Lübbes wäre dies genau die Art technokratischer Politik, die auch er selbst wünscht. Lübbe hat diese Art der Politik auch tatsächlich als Politiker in Nordrhein-Westfalen in den 1970er Jahren vertreten. Er galt damals allgemein als "rechter" SPD-Mann. Rigorose Kritik gegen die Technokraten wurde dagegen von Habermas vorgebracht, der sich besonders mit Lübbe persönlich um diesen Punkt stritt. Lübbes Auffassung lautete damals, dass Leute, die nichts von Politik verstehen, sich besser aus solchen Angelegenheiten heraushalten sollten, womit er gezielt auf Habermas anspielte.

Zitate

„Die Technik selbst kann Autoritarismus ebenso fördern wie Freiheit, den Mangel so gut wie den Überfluss, die Ausweitung von Schwerstarbeit wie deren Abschaffung. Der Nationalsozialismus ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie ein hochrationalisiertes und durchmechanisiertes Wirtschaftssystem von höchster Produktivität im Interesse von totalitärer Unterdrückung und verlängertem Mangel funktionieren kann. (...)“

„Um die wirkliche Bedeutung dieser Veränderungen zu verstehen, ist es notwendig, einen kurzen Überblick zu geben über die traditionelle Rationalität und über die Formen der Individualität, die auf der gegenwärtigen Stufe des Maschinenzeitalters aufgelöst werden. Das menschliche Individuum, das die Vorkämpfer der bürgerlichen Revolution zur Keimzelle wie zum höchsten Zweck der Gesellschaft erhoben hatten, repräsentierte Wertvorstellungen, die offensichtlich denen widersprechen, welche die Gesellschaft heute beherrschen.“

Herbert Marcuse

„Expertokratie ist eine Kombination aus Verwaltung und Experten, in der unentwegt irgendwelche Strategiepapiere mit mundgerechten Informationen darüber verfasst werden, was aus ihrer Sicht die Politiker wissen müssten. Das politische Gemeinwesen, das sind die Bürgerinnen und Bürger, ist bei diesem Prozess völlig außen vor. Das Verhängnisvolle daran ist, dass auf der technischen Ebene alle parlamentarischen Verkehrsformen eingehalten werden - aber zugleich die Planungsprozesse immanent undemokratisch sind, weil sie nur in der Dualität zwischen Techno- und Politikerpolitik ablaufen. Am Ende heißt es dann: Was wir entschieden haben, war alternativlos.“

Harald Welzer