Locked-in-Syndrom

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Klassifikation nach ICD-10
G83.5 Locked-in-Syndrom
P91.80 Locked-in-Syndrom beim Neugeborenen
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Das Locked-in-Syndrom (engl.; dt. Eingeschlossensein- bzw. Gefangensein-Syndrom) bezeichnet einen Zustand, in dem ein Mensch zwar bei Bewusstsein, jedoch körperlich fast vollständig gelähmt und unfähig ist, sich sprachlich oder durch Bewegungen verständlich zu machen.

Kommunikationsmöglichkeiten nach außen ergeben sich meist nur durch die erhaltene vertikale Augenbeweglichkeit, und wenn auch diese verloren gegangen ist, durch eine Messung der Pupillenerweiterung. Die Verwendung eines Brain-Computer-Interfaces ist eine weitere Möglichkeit, dem Betroffenen die Kommunikation mit der Außenwelt zu ermöglichen. Der Hörsinn ist völlig intakt. Fragen, die mit „ja“ oder „nein“ beantwortet werden können, kann mancher Erkrankte durch Augenbewegungen oder Augenzwinkern beantworten. Wenn gar keine willentliche Muskelaktivität vorhanden ist, spricht man vom vollständigen Locked-in-Syndrom (completely locked-in syndrome, CLIS).

Locked-in-Syndrom
Andere NamenZerebromedullospinale Diskonnektion, de-efferentierter Zustand, Pseudokoma, ventrales pontines Syndrom
CerebellumArteries.svg
Das Locked-in-Syndrom kann u. a. durch einen Schlaganfall auf Höhe der Arteria basilaris verursacht werden, die das Blut zum Pons ableitet.
FachgebietNeurologie, Psychiatrie

Anzeichen und Symptome

Das Locked-in-Syndrom ist in der Regel durch Tetraplegie (Verlust der Gliedmaßenfunktion) und die Unfähigkeit zu sprechen bei ansonsten kognitiv intakten Personen gekennzeichnet. Menschen mit Locked-in-Syndrom können durch Blinzeln oder Bewegen der Augen, die oft nicht von der Lähmung betroffen sind, über verschlüsselte Botschaften mit anderen kommunizieren. Die Symptome sind denen der Schlaflähmung ähnlich. Patienten mit Locked-in-Syndrom sind bei Bewusstsein, ohne dass ihre kognitiven Funktionen beeinträchtigt sind. Sie können manchmal ihre Propriozeption und ihr Körpergefühl beibehalten. Einige Patienten sind in der Lage, bestimmte Gesichtsmuskeln und meist auch einige oder alle extraokularen Muskeln zu bewegen. Den Betroffenen fehlt die Koordination zwischen Atmung und Stimme. Dies hindert sie daran, freiwillig Laute zu erzeugen, obwohl die Stimmbänder selbst nicht gelähmt sein müssen.

Ursachen

Bei Kindern ist die häufigste Ursache ein Schlaganfall der ventralen Pons.

Im Gegensatz zum Wachkoma, bei dem die oberen Teile des Gehirns geschädigt sind und die unteren Teile verschont bleiben, ist das Locked-in-Syndrom genau das Gegenteil: Es wird durch eine Schädigung bestimmter Teile des Unterhirns und des Hirnstamms verursacht, ohne dass das Oberhirn geschädigt wird.spezifisch Verletzungen der Pons sind die häufigste Ursache des Locked-in-Syndroms.

Mögliche Ursachen des Locked-in-Syndroms sind:

  • Vergiftungsfälle - häufiger durch einen Kraitbiss und andere neurotoxische Gifte, da diese in der Regel die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden können
  • Hirnstamm-Schlaganfall
  • Erkrankungen des Kreislaufsystems
  • Überdosierung von Medikamenten
  • Schädigung von Nervenzellen, insbesondere Zerstörung der Myelinscheide, verursacht durch Krankheit oder osmotisches Demyelinisierungssyndrom (früher als zentrale pontine Myelinolyse bezeichnet) als Folge einer zu schnellen Korrektur einer Hyponatriämie [>1 mEq/L/h])
  • Schlaganfall oder Hirnblutung, in der Regel in der Arteria basilaris
  • Traumatische Hirnverletzung
  • Folge einer Läsion des Hirnstamms

Eine Curare-Vergiftung ahmt ein totales Locked-in-Syndrom nach, indem sie eine Lähmung aller willentlich kontrollierten Skelettmuskeln verursacht. Auch die Atemmuskulatur ist gelähmt, doch kann das Opfer durch künstliche Beatmung am Leben erhalten werden.

Zu den neurologischen Ursachen des Locked-In-Syndroms zählen unter anderem Läsionen im Pons, selten auch im Mittelhirn oder auf beiden Seiten der Capsula interna. Den Läsionen liegt im Allgemeinen eine Gefäßstörung nach einer Thrombose der Arteria basilaris zugrunde. Es ist schwierig, diese Form des Locked-in-Syndroms von anderen Formen der Querschnittlähmung mit Bewusstseinsverlust zu unterscheiden. Aufgrund der Schädigung im Bereich des Pons sind vertikale Blickbewegungen möglich, da die motorischen Bereiche, im Gegensatz zu den horizontalen Bewegungen, oberhalb des Pons liegen. Mithilfe dieser Augenbewegungen ist eine Verständigung möglich.

Diagnose

Das Locked-in-Syndrom kann schwierig zu diagnostizieren sein. Bei einer 2002 durchgeführten Untersuchung von 44 Personen mit LIS dauerte es fast drei Monate, bis der Zustand nach seinem Beginn erkannt und diagnostiziert wurde. Das Locked-in-Syndrom kann den Bewusstseinsverlust der Patienten imitieren oder, wenn die Kontrolle über die Atmung verloren geht, sogar dem Tod ähneln. Die Betroffenen sind auch nicht in der Lage, motorische Standardreaktionen auszulösen, wie z. B. den Rückzug aus dem Schmerz; daher müssen bei Tests oft Aufforderungen an den Patienten gestellt werden, wie z. B. Blinzeln oder vertikale Augenbewegungen.

Die Bildgebung des Gehirns kann zusätzliche Hinweise auf das Locked-in-Syndrom liefern, da die Bildgebung des Gehirns Anhaltspunkte dafür liefert, ob die Gehirnfunktion verloren gegangen ist oder nicht. Außerdem kann ein EEG die Beobachtung von Schlaf-Wach-Mustern ermöglichen, die darauf hindeuten, dass der Patient nicht bewusstlos ist, sondern sich einfach nicht bewegen kann.

Ähnliche Erkrankungen

  • Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)
  • Beidseitige Hirnstammtumore
  • Hirntod (des gesamten Gehirns oder des Hirnstamms oder eines anderen Teils)
  • Koma (tief oder irreversibel)
  • Guillain-Barré-Syndrom
  • Myasthenie gravis
  • Poliomyelitis
  • Polyneuritis
  • Vegetativer Zustand (chronisch oder anderweitig)

Behandlung

Es gibt weder eine Standardbehandlung noch eine Heilung. Es ist bekannt, dass die Stimulation der Muskelreflexe mit Elektroden (NMES) den Patienten helfen kann, eine gewisse Muskelfunktion wiederzuerlangen. Andere Behandlungsmethoden sind oft symptomatisch. Assistive Computerschnittstellentechnologien wie Dasher können in Verbindung mit der Augensteuerung eingesetzt werden, um Menschen mit LIS bei der Kommunikation mit ihrer Umwelt zu unterstützen.

Prognose

Es ist äußerst selten, dass eine nennenswerte motorische Funktion zurückkehrt, und die meisten Patienten mit Locked-in-Syndrom erlangen die motorische Kontrolle nie wieder zurück. Einige Betroffene leben jedoch noch längere Zeit, und in Ausnahmefällen, wie bei Kerry Pink, Gareth Shepherd, Jacob Haendel, Kate Allatt und Jessica Wegbrans, kann mit intensiver Physiotherapie eine nahezu vollständige Genesung erreicht werden.

Forschung

Neue Gehirn-Computer-Schnittstellen (BCI) könnten in Zukunft Abhilfe schaffen. Ein Versuch aus dem Jahr 2002 ermöglichte es einem vollständig eingeschlossenen Patienten, Ja-oder-Nein-Fragen zu beantworten. Im Jahr 2006 haben Forscher eine neuronale Schnittstelle entwickelt und erfolgreich getestet, die es einer Person mit Locked-in-Syndrom ermöglicht, einen Webbrowser zu bedienen. Einige Wissenschaftler haben berichtet, dass sie eine Technik entwickelt haben, die es Locked-in-Patienten ermöglicht, durch Schnüffeln zu kommunizieren. Erstmals im Jahr 2020 konnte ein 34-jähriger deutscher Patient, der seit 2015 gelähmt ist (später auch die Augäpfel), über ein Implantat kommunizieren, das die Hirnaktivität lesen kann.

Betreuung der Betroffenen

Die Betreuung erfordert besondere Pflegemaßnahmen. Eine Behandlung der Ursachen, Psycho- und Physiotherapie sowie Ergotherapie zur Förderung der Selbstständigkeit sind notwendig. Gewöhnlich muss der Patient wegen der Schluckstörung (Dysphagie) künstlich ernährt werden. Die Schluckfähigkeit und die Sprachfähigkeit werden mittels der Logopädie teilweise oder manchmal auch komplett wiederhergestellt. Die Krankheit ist schwerwiegend und weist eine erhebliche Mortalitätsrate auf. Eine zumindest teilweise Besserung des Zustandes ist aber möglich.

Ein Betroffener berichtete:

„Ich glaube, dass die unendliche Geduld, welche die Behandlung meiner Krankheit braucht, in unserer Gesellschaft nicht sehr verbreitet ist und dass meine Krankheit und diese schnelllebige Gesellschaft nichts gemeinsam haben. Sicherlich ist die Ungeduld das, was ich am meisten fürchte. Es scheint, als hätten die Menschen vergessen, dass sie selbst ungefähr ein Jahr benötigt haben, um laufen und sprechen zu lernen… Ich werde sicherlich unter erschwerten Bedingungen mindestens ähnlich lange brauchen.“

Karl-Heinz Pantke: Im August 1996 - dradio.de Deutschlandfunk, Das Feature, 27. Mai 2011, Manuskript, S. 5. (25. Juli 2011)

Laut Studien mit an ALS erkrankten Locked-in-Patienten bezeichnen diese ihre Lebensqualität mehrheitlich „als ‚zufrieden stellend‘ oder sogar als ‚gut‘“, wobei der Kommunikationsfähigkeit und der Interaktion mit der Umwelt eine wesentliche Bedeutung zukommt.

Abgrenzung zum Wachkoma

Das Locked-in-Syndrom ist vom Wachkoma abzugrenzen, da das Bewusstsein des Patienten größtenteils erhalten bleibt. Er ist meist genauso aufnahmefähig wie ein Gesunder. Er kann alles in seiner Umgebung hören und verstehen, kann sich aber nicht auf herkömmliche Weise mitteilen.