Finnlandisierung

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Eine 1970 anlässlich Lenins 100. Geburtstag und des Lenin-Symposiums in Tampere herausgegebene finnische Briefmarke
Nikita Chruschtschow (Mitte) auf Urho Kekkonens (links) 60. Geburtstag

Finnlandisierung ist ein politisches Schlagwort, das die machtpolitischen Verhältnisse zweier benachbarter Staaten beschreibt. Es wird für den Einfluss verwendet, den ein mächtiger Nachbarstaat auf seinen kleineren Nachbarstaat und dessen Politik ausübt.

Der Begriff entstand im Kalten Krieg als Kritik an der Politik der sozialliberalen Regierung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der Sowjetunion („Ostpolitik“). Das Schlagwort bezieht sich auf die Bemühungen eines Landes, Neutralität zu wahren und zugleich gute Beziehungen zu einem mächtigen Nachbarstaat zu pflegen, wie es während des Ost-West-Konfliktes von Finnland gegenüber der Sowjetunion praktiziert wurde.

Finnland, das seit 1809 ein autonomes Großherzogtum im Russischen Reich war, erklärte sich nach der russischen Oktoberrevolution (6. Dezember 1917) für unabhängig. Nach dem Sowjetisch-finnischen Winterkrieg 1939/40 und den folgenden Gebietsverlusten (Karelien) griff die Republik Finnland 1941 gemeinsam mit deutschen Truppen im sogenannten Fortsetzungskrieg die Sowjetunion an. Im September 1944 wurde ein Waffenstillstand geschlossen, am 10. Februar 1947 ein Friedensvertrag unterzeichnet, in dem Finnland weitere Gebiete an die Sowjetunion abtreten musste. Am 6. April 1948 folgte der Finnisch-Sowjetische Vertrag.

Bis zum Beitritt in den Europarat 1990 (nach dem Fall des Eisernen Vorhanges) blieb Finnland strikt neutral und wurde deshalb oft wegen „vorauseilenden Gehorsams“ gegenüber der Sowjetunion kritisiert. Die Autorin Sofi Oksanen sprach 2014 rückblickend von einem Zustand „verminderter Selbstständigkeit, angenagter Demokratie und abgewürgter Meinungsfreiheit“.

In Deutschland wurde der Begriff vor allem von Franz Josef Strauß (1915–1988, u. a. Kanzlerkandidat der CDU/CSU 1980) verwendet, der für eine enge Bindung Deutschlands an die USA stand. Damit kritisierte er die Ostpolitik von Egon Bahr und Willy Brandt. Ursprünglich wurde dieser Begriff von den Politikwissenschaftlern Walter Hallstein und Richard Löwenthal geprägt, die das Risiko thematisierten, die US-Truppen könnten aus Deutschland abgezogen werden. In den Sicherheits- und Rüstungsdebatten der 1970er und 1980er Jahre wurde Finnlandisierung zum politischen Kampfbegriff, der vor dem Ziel warnte, Deutschland zu einem zwar wiedervereinigten, aber „neutralisierten“ Land zu machen. Auch in Finnland selbst wurde der Begriff verwendet, als während der Ära des finnischen Präsidenten Kekkonen gegenüber der Sowjetunion ein besonders freundschaftliches Verhältnis aufgebaut wurde (Kekkonen war vom 17. März 1950 bis 17. November 1953 und vom 20. Oktober 1954 bis 17. Februar 1956 Ministerpräsident und danach bis zum 26. Oktober 1981 Staatspräsident).

In Japan, wo Ministerpräsident Nakasone nach seinem Amtsantritt 1980 betont antisowjetische Töne anschlug und wiederholt eindringlich vor der Finnlandisierung seines Landes warnte, setzte sich 1981 der berühmte (zeitweilig auch an der FU Berlin lehrende) Literat und Kommentator Katō Shūichi in einem Artikel „Neubewertung der Finnlandisierung“ (フィンランド化再考, Finrando-ka saikō) für eine positive Neubesetzung dieses Begriffs (als eine vielversprechende Form der Friedenspolitik) ein. Sein Kollege Eiichi Tanizawa konterte, dass Finnland sich nur deshalb mehr Freiheit als die osteuropäischen Sowjet-Vasallen bewahrt habe, weil es immer wieder entschlossenen militärischen Widerstand gegen sowjetische Besetzungsversuche geleistet habe; selbst so ein bescheidenes nationales Ziel wie Finnlandisierung sei nur durch Wehrhaftigkeit zu erreichen.

Ursprung und internationale Verwendung

In Deutschland wurde der Begriff vor allem von Befürwortern einer engeren Anpassung an die US-Politik verwendet, vor allem von Franz Josef Strauß. Er wurde jedoch zunächst in der wissenschaftlichen Debatte geprägt und von den deutschen Politikwissenschaftlern Walter Hallstein und Richard Löwenthal bekannt gemacht, die damit die befürchteten Auswirkungen eines Abzugs der US-Truppen aus Deutschland zum Ausdruck brachten. Der Begriff wurde in der Debatte der NATO-Staaten als Reaktion auf Willy Brandts Bemühungen um eine Normalisierung der Beziehungen zu Ostdeutschland und die darauf folgende weit verbreitete Skepsis in Deutschland gegenüber dem NATO-Doppelbeschluss verwendet. Später, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, wurde der Begriff in Finnland für die Radikalisierung nach 1968 in der zweiten Hälfte der Ära Urho Kekkonen verwendet.

In den 1990er Jahren wurde die Finnlandisierung auch als mögliche Strategie diskutiert, mit der die Sowjetunion unter Gorbatschow ihre Beziehungen zu den Staaten des Warschauer Pakts von 1989 bis 1991 zu überarbeiten versuchte, um von einem informellen Imperium zu einem lockeren Einflusssphärenmodell überzugehen, was durch den Zusammenbruch der UdSSR ausgeschlossen wurde.

Außenpolitikexperten der Vereinigten Staaten befürchteten stets, dass Westeuropa und Japan von der Sowjetunion finnifiziert werden könnten, was dazu führen würde, dass diese wichtigen Verbündeten die Vereinigten Staaten nicht mehr gegen die Sowjetunion unterstützen würden. Die Theorie des "bandwagoning" stützte die Vorstellung, dass die NATO und das amerikanisch-japanische Bündnis zusammenbrechen könnten, wenn die Vereinigten Staaten nicht in der Lage wären, die antikommunistischen Positionen ihrer Verbündeten stark und glaubwürdig zu unterstützen.

Der Begriff wurde auch im Zusammenhang mit anderen Ländern verwendet, z. B. als mögliche Folge des Krieges zwischen Russland und der Ukraine.

Finnische Wahrnehmung

Im April 1970 wurde zu Ehren des 100. Geburtstags von Wladimir Lenin und des Lenin-Symposiums, das in diesem Jahr in Tampere stattfand, eine finnische Briefmarke herausgegeben.

Die Reaktionen der Finnen auf den Begriff "Finnlandisierung" waren und sind sehr unterschiedlich. Einige haben den Begriff als stumpfe Kritik aufgefasst, die aus der Unfähigkeit resultiert, die praktischen Umstände zu verstehen, wie eine kleine Nation mit einer benachbarten Supermacht umgehen muss, ohne ihre Souveränität zu verlieren. Diese praktischen Probleme bestanden vor allem aufgrund der anhaltenden Auswirkungen der russischen Herrschaft in der Zeit, bevor die Finnen zum ersten Mal ihre Souveränität erlangten, und aufgrund des prekären Machtgleichgewichts im Osten, das sich aus einem geografisch ausgedehnten, aber dünn besiedelten Staat mit einer traditionell imperialistischen Supermacht direkt an der Grenze ergab.

Der Grund für die Finnlandisierung war in erster Linie Realpolitik: Es ging ums Überleben. Andererseits wurde die Bedrohung durch die Sowjetunion auch in der finnischen Innenpolitik auf eine Art und Weise genutzt, die die Finnlandisierung möglicherweise noch vertiefte (das Ausspielen der so genannten idänkortti, der "Ostkarte"). Finnland hatte in den späten 1940er Jahren ein solches Abkommen mit der Regierung Joseph Stalins geschlossen, das von beiden Parteien bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 weitgehend respektiert wurde - zum Vorteil beider Parteien. Während die finnische politische und intellektuelle Elite den Begriff eher als Hinweis auf die außenpolitischen Probleme anderer Länder verstand und er hauptsächlich für den heimischen Gebrauch im eigenen Land gedacht war, empfanden viele einfache Finnen den Begriff als höchst beleidigend. Der finnische politische Karikaturist Kari Suomalainen erklärte die Finnlandisierung einmal als "die Kunst, sich vor dem Osten zu verbeugen, ohne den Westen zu bemuttern".

Historischer Hintergrund

Die Außenpolitik Finnlands war vor diesem Abkommen sehr unterschiedlich: Unabhängigkeit vom kaiserlichen Russland mit Unterstützung des kaiserlichen Deutschlands im Jahr 1917; Teilnahme am russischen Bürgerkrieg (ohne offizielle Kriegserklärung) an der Seite der Triple Entente 1918-1920; ein nicht ratifiziertes Bündnis mit Polen im Jahr 1922; ein Bündnis mit den neutralistischen und demokratischen skandinavischen Ländern in den 1930er Jahren, das durch den Winterkrieg (1939) beendet wurde, der mit einem Pyrrhussieg der Sowjetunion endete; und schließlich 1940 eine Annäherung an Nazi-Deutschland, die einzige Macht, die in der Lage und willens war, Finnland gegen die expansionistische Sowjetunion zu helfen, was 1941 zum Wiedereintritt Finnlands in den Zweiten Weltkrieg führte.

Die Niederlage der Wehrmacht in der Schlacht von Stalingrad führte dazu, dass Finnland im Wesentlichen zu seinen Traditionen aus dem 19. Jahrhundert zurückkehrte, die bis zur Russifizierung Finnlands (1899-1905) als sehr erfolgreich empfunden worden waren. Die finnische Führung erkannte, dass ein direkter Widerstand gegen die Sowjets nicht mehr möglich war. Keine internationale Macht war in der Lage, die notwendige Unterstützung zu leisten. Nazideutschland, Finnlands wichtigster Unterstützer gegen Russland, verlor den Krieg. Schweden war nicht groß genug, und seine Führung scheute die Konfrontation mit Russland. Die Westmächte waren mit der Sowjetunion verbündet. So musste Finnland seinem größeren Nachbarn allein gegenübertreten, ohne den Schutz einer Großmacht. Wie schon im 19. Jahrhundert beschloss Finnland, die Außenpolitik Sowjetrusslands nicht herauszufordern, sondern seine Unabhängigkeit zu wahren.

Die Paasikivi-Doktrin

Urho Kekkonen und Juho Kusti Paasikivi

Nach dem Pariser Friedensvertrag von 1947 gelang es Finnland, trotz des starken politischen Drucks der Sowjetunion auf die finnischen Außen- und Innenpolitik Demokratie und Parlamentarismus zu bewahren. Die finnischen Außenbeziehungen orientierten sich an der von Juho Kusti Paasikivi formulierten Doktrin, die die Notwendigkeit betonte, gute und vertrauensvolle Beziehungen zur Sowjetunion zu unterhalten.

Finnland unterzeichnete im April 1948 ein Abkommen über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand mit der Sowjetunion, in dem es sich verpflichtete, bewaffneten Angriffen "Deutschlands oder seiner Verbündeten" gegen Finnland oder gegen die Sowjetunion durch Finnland zu widerstehen und erforderlichenfalls sowjetische Militärhilfe zu erbitten. Gleichzeitig wurde in dem Abkommen der Wunsch Finnlands anerkannt, sich aus den Konflikten zwischen den Großmächten herauszuhalten, so dass das Land während des Kalten Krieges eine Politik der Neutralität verfolgen konnte.

Infolgedessen beteiligte sich Finnland nicht am Marshallplan und nahm eine neutrale Haltung zu den sowjetischen Initiativen in Übersee ein. Durch die Aufrechterhaltung sehr kühler Beziehungen zur NATO und zu den westlichen Militärmächten im Allgemeinen konnte Finnland den sowjetischen Druck abwehren, sich dem Warschauer Pakt anzuschließen.

Selbstzensur und übermäßige sowjetische Anpassung

Von der politischen Szene nach der Radikalisierung nach 1968 griff die sowjetische Anpassung auf die Redakteure der Massenmedien über und löste starke Formen der Selbstkontrolle, Selbstzensur und pro-sowjetische Haltungen aus. Die meisten Eliten in Medien und Politik passten sich den Werten an, die die Sowjets angeblich befürworteten und billigten.

Erst nach dem Aufstieg von Michail Gorbatschow an die Spitze der Sowjetunion im Jahr 1985 begannen die Massenmedien in Finnland allmählich, die Sowjetunion stärker zu kritisieren. Als die Sowjetunion zuließ, dass nichtkommunistische Regierungen in Osteuropa die Macht übernahmen, schlug Gorbatschow vor, dass sie sich an Finnland ein Beispiel nehmen könnten.

Zensur

Zwischen 1944 und 1946 verlangte der sowjetische Teil der alliierten Kontrollkommission, dass die finnischen öffentlichen Bibliotheken mehr als 1 700 Bücher aus dem Verkehr ziehen sollten, die als antisowjetisch galten, und die Buchhandlungen erhielten Kataloge mit verbotenen Büchern. Die finnische Filmklassifizierungsbehörde verbot ebenfalls Filme, die sie als antisowjetisch ansah. Zu den verbotenen Filmen gehörten One, Two, Three (1961) von Billy Wilder, The Manchurian Candidate (1962) von John Frankenheimer, One Day in the Life of Ivan Denisovich (1970) des finnischen Regisseurs Caspar Wrede und Born American (1986) des finnischen Regisseurs Renny Harlin.

Die Zensur hatte nie die Form einer Säuberung. Der Besitz oder Gebrauch von antisowjetischen Büchern wurde nicht verboten, wohl aber der Nachdruck und die Verbreitung solcher Materialien. Vor allem im Bereich der Selbstzensur von Rundfunk und Fernsehen war es manchmal schwer zu erkennen, ob die Beweggründe überhaupt politisch waren. Nach der Einführung eines Systems zur Erfassung von Aufnahmen auf schwarzen Listen nutzten beispielsweise einzelne Entscheidungsträger des staatlichen Rundfunks Yleisradio dieses System auch, um Lieder zu zensieren, die sie aus anderen Gründen für unangemessen hielten, z. B. solche, die sexuelle Anspielungen oder Hinweise auf Alkohol enthielten.