Agranulozytose

Aus besserwiki.de
Agranulozytose
SpezialgebietHämatologie, Immunologie
SymptomeMuskelkater, Fieber, Halsschmerzen, schnelle Infektion
KomplikationenSepsis
AuslöserIdiosynkratische Reaktionen auf bestimmte Medikamente
RisikofaktorenKokainkonsum
Diagnostische MethodeVollständiges Blutbild, Knochenmarkuntersuchung
DifferentialdiagnoseAplastische Anämie, paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie, Myelodysplasie, Leukämie

Die Agranulozytose, auch Agranulose oder Granulopenie genannt, ist eine akute Erkrankung, die mit einer schweren und gefährlichen Verminderung der weißen Blutkörperchen (Leukopenie, meist der neutrophilen Granulozyten) einhergeht und somit eine Neutropenie im Blutkreislauf verursacht. Es handelt sich um einen schweren Mangel an einer Hauptklasse von infektionsbekämpfenden weißen Blutkörperchen. Menschen mit diesem Zustand sind aufgrund ihres unterdrückten Immunsystems einem sehr hohen Risiko für schwere Infektionen ausgesetzt.

Bei der Agranulozytose sinkt die Konzentration der Granulozyten (eine Hauptklasse weißer Blutkörperchen, zu der Neutrophile, Basophile und Eosinophile gehören) unter 200 Zellen/mm³ Blut.

Klassifikation nach ICD-10
D70 Agranulozytose
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Anzeichen und Symptome

Die Agranulozytose kann asymptomatisch sein oder sich klinisch mit plötzlichem Fieber, Rigor und Halsschmerzen äußern. Eine Infektion eines beliebigen Organs kann rasch fortschreiten (z. B. Lungenentzündung, Harnwegsinfektion). Auch eine Sepsis kann schnell fortschreiten.

Auslöser

Zahlreiche Arzneimittel wurden mit Agranulozytose in Verbindung gebracht, darunter Antiepileptika (wie Carbamazepin und Valproat), Schilddrüsenmedikamente (Carbimazol, Thiamazol und Propylthiouracil), Antibiotika (Penicillin, Chloramphenicol und Trimethoprim/Sulfamethoxazol), H2-Blocker (Cimetidin, Famotidin, Nizatidin, Ranitidin), ACE-Hemmer (Benazepril), zytotoxische Arzneimittel, Goldsalze, Analgetika (Aminophenazon, Indomethacin, Naproxen, Phenylbutazon, Metamizol), Mebendazol, Allopurinol, die Antidepressiva Mianserin und Mirtazapin sowie einige Antipsychotika (insbesondere das atypische Antipsychotikum Clozapin). Clozapin-Anwender in den Vereinigten Staaten, Australien, Kanada und dem Vereinigten Königreich müssen landesweit für die Überwachung einer niedrigen Anzahl weißer Blutkörperchen (WBC) und absoluter Neutrophiler (ANC) registriert sein.

Obwohl die Reaktion in der Regel idiosynkratisch und nicht proportional ist, empfehlen Experten, dass Patienten, die diese Medikamente einnehmen, über die Symptome einer Agranulozytose-bedingten Infektion, wie Halsschmerzen und Fieber, informiert werden.

Die Centers for Disease Control and Prevention haben Ausbrüche von Agranulozytose unter Kokainkonsumenten in den USA und Kanada zwischen März 2008 und November 2009 auf das Vorhandensein von Levamisol im Drogenangebot zurückgeführt. Die Drug Enforcement Administration berichtete, dass im Februar 2010 71 % der beschlagnahmten Kokainpartien, die in die USA eingeführt wurden, Levamisol als Streckmittel enthielten. Levamisol ist ein Antihelminthikum (d. h. ein Mittel zur Entwurmung), das bei Tieren eingesetzt wird. Der Grund für die Beimischung von Levamisol zu Kokain ist nicht bekannt, könnte aber auf den ähnlichen Schmelzpunkt und die Löslichkeit der beiden Substanzen zurückzuführen sein.

Diagnose

Die Diagnose wird nach einem vollständigen Blutbild, einer Routine-Blutuntersuchung, gestellt. Die absolute Neutrophilenzahl liegt bei diesem Test unter 500 und kann 0 Zellen/mm³ erreichen. Andere Arten von Blutzellen sind in der Regel in normaler Anzahl vorhanden. Um eine Agranulozytose förmlich zu diagnostizieren, müssen andere Krankheiten mit ähnlichem Erscheinungsbild ausgeschlossen werden, wie z. B. aplastische Anämie, paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie, Myelodysplasie und Leukämien. Dies erfordert eine Knochenmarkuntersuchung, die ein normozelluläres (normale Mengen und Arten von Zellen) Blutmark mit unterentwickelten Promyelozyten zeigt. Diese unterentwickelten Promyelozyten wären, wenn sie voll ausgereift wären, die fehlenden Granulozyten gewesen.

Klassifizierung

Der Begriff "Agranulozytose" leitet sich aus dem Griechischen ab: a, d. h. ohne; Granulozyt, eine bestimmte Art weißer Blutkörperchen (mit Körnchen im Zytoplasma); und osis, d. h. Zustand [insb. Störung]. Folglich wird Agranulozytose manchmal als "ohne Granulozyten" beschrieben, aber ein völliges Fehlen ist für die Diagnose nicht erforderlich. Allerdings wird "-osis" bei Blutkrankheiten üblicherweise verwendet, um eine Zellvermehrung zu implizieren (wie bei "Leukozytose"), während "-penia" eine verringerte Zellzahl impliziert (wie bei "Leukopenie"); aus diesen Gründen ist "Granulozytopenie" ein etymologisch konsistenterer Begriff und wird daher manchmal gegenüber "Agranulozytose" bevorzugt (der als "Agranulozytose" fehlinterpretiert werden kann, was eine Vermehrung von Agranulozyten (d. h. Lymphozyten und Monozyten) bedeutet). d. h. Lymphozyten und Monozyten). Trotzdem bleibt "Agranulozytose" der am häufigsten verwendete Begriff für diese Erkrankung.

Die Begriffe Agranulozytose, Granulozytopenie und Neutropenie werden manchmal synonym verwendet. Agranulozytose impliziert einen schwereren Mangel als Granulozytopenie. Neutropenie bedeutet nur einen Mangel an Neutrophilen (der häufigsten Granulozytenzelle).

Um genau zu sein, ist Neutropenie der Begriff, der normalerweise verwendet wird, um absolute Neutrophilenzahlen (ANCs) von weniger als 500 Zellen pro Mikroliter zu beschreiben, während Agranulozytose für Fälle mit ANCs von weniger als 100 Zellen pro Mikroliter reserviert ist.

Die folgenden Begriffe können verwendet werden, um die Art der Granulozyten zu spezifizieren:

  • Unzureichende Anzahl von Neutrophilen: Neutropenie (am häufigsten)
  • Unzureichende Anzahl von Eosinophilen: Eosinopenie (selten)
  • Unzureichende Anzahl von Basophilen: Basopenie (sehr selten)

Generell lässt sich die Pathogenese der Neutropenie in zwei Kategorien einteilen;

  • Unzureichende oder ineffiziente Bildung von Granulozyten. Dies kann auf ein Knochenmarkversagen im Zusammenhang mit aplastischer Anämie, Leukämie oder Chemotherapeutika zurückzuführen sein. Es kann auch zu isolierten Neutropenien kommen, bei denen nur differenzierte Granulozytenvorläufer betroffen sind, wie im Falle einer neoplastischen Proliferation von zytotoxischen T-Zellen oder NK-Zellen
  • Beschleunigte Zerstörung von Neutrophilen. Immunvermittelte Reaktionen auf Neutrophile, die durch Medikamente ausgelöst werden können. Eine vergrößerte Milz kann zu einer Sequestrierung der Milz und einer beschleunigten Entfernung der Neutrophilen führen. Die Verwertung von Neutrophilen kann bei Infektionen auftreten.

Behandlung

Bei Patienten, die keine Symptome einer Infektion aufweisen, besteht die Behandlung in einer engmaschigen Überwachung mit seriellen Blutbildern, dem Absetzen des auslösenden Mittels (z. B. Medikamente) und einer allgemeinen Beratung über die Bedeutung von Fieber. Die Transfusion von Granulozyten wäre eine Lösung für das Problem. Allerdings leben Granulozyten nur ~10 Stunden im Blutkreislauf (tagelang in der Milz oder anderem Gewebe), was eine sehr kurzfristige Wirkung hat. Außerdem gibt es viele Komplikationen bei einem solchen Verfahren.

Ursachen

Häufigste Ursache einer Agranulozytose ist eine Unverträglichkeitsreaktion auf bestimmte Medikamente, oft Analgetika, Antipyretika, Neuroleptika, Thyreostatika oder Sulfonamide. Seltener ist eine Störung der Blutbildung im Knochenmark, zum Beispiel durch maligne Tumoren, aplastische Anämien und Einnahme von Chemotherapeutika.

Die wichtigsten auslösenden Medikamente der Agranulozytose sind Metamizol (Agranulozytoserisiko nach einer schwedischen Studie aus dem Jahr 2009 1:1700), Clozapin, Clomipramin, Ticlopidin, Carbimazol, Thiamazol, Sulfasalazin, Cotrimoxazol, Carbamazepin, Perchlorat.

Anders als bei einer Unverträglichkeitsreaktion auf bestimmte Medikamente kann eine Einnahme von Levamisol (beispielsweise als Streckmittel in Kokain aufgrund des ähnlichen Aussehens und angeblicher Wirkungsverlängerung) eine Agranulozytose herbeiführen, wenn das Histokompatibilitäts-Antigen HLA-B27 vorhanden ist.

Formen

Die Typ-I-Agranulozytose wird durch eine Immunreaktion gegen die zirkulierenden Granulozyten ausgelöst und tritt als akute Erkrankung auf.

Die Typ-II-Agranulozytose setzt meist allmählich ein und wird durch eine toxische Schädigung des Knochenmarks durch Medikamente ausgelöst.

Klinisches Bild

Die Erkrankung beginnt unspezifisch mit einer Störung des Allgemeinbefindens und Fieber. Später treten Schleimhautgeschwüre, Hautnekrosen und örtlich begrenzte Lymphome auf. Man spricht auch von der Trias: 1. Fieber, 2. Angina tonsillaris, 3. Mundfäule.

Diagnostik

Wegweisend ist eine Laboruntersuchung des Blutes (Blutbild). Weiterhin muss sorgfältig nachgeforscht werden, welche Medikamente eingenommen wurden und potenziell ursächlich sein können. Zum Ausschluss einer Bildungsstörung der weißen Blutkörperchen wird eine Gewebeprobe aus dem Knochenmark (meist Beckenkamm, alternativ Brustbein) entnommen und feingeweblich untersucht.

Therapie

Da meist von einer Nebenwirkung von Arzneimitteln auszugehen ist, sollten an erster Stelle alle nicht unbedingt notwendigen Medikamente abgesetzt werden bzw. durch solche ersetzt werden, die bekanntermaßen keine Agranulozytose auslösen. Oft lässt sich das auslösende Medikament nicht ermitteln. Weiterhin werden Maßnahmen zur Infektionsprophylaxe eingeleitet. Um die Therapie zu unterstützen, kann die Granulozytenproduktion durch die Gabe von Granulozyten-Wachstumsfaktoren G-CSF und GM-CSF angeregt werden.

Prophylaxe

Wichtig ist die Aufklärung über die Möglichkeit einer Agranulozytose als Nebenwirkung von Medikamenten, da gerade häufig eingenommene Präparate wie Metamizol oder das Neuroleptikum Clozapin eine Agranulozytose auslösen können.

Der Agranulozytose-Patient ist gründlich über die möglichen Ursachen seiner Erkrankung aufzuklären, da auch nach der Überwindung der Krankheit die Empfindlichkeit gegenüber der Substanz bestehen bleibt. Bei Bestehen einer Agranulozytose sollte auf eine gründliche Körperhygiene, insbesondere der Mund-, Rachen- und Analregion, geachtet werden. Menschenansammlungen sollten aufgrund der Infektionsgefahr vermieden werden.

Sonderformen

Neben diesen medikamentös-allergisch verursachten gibt es angeborene Agranulozytosen:

  • infantile hereditäre Agranulozytose, siehe Kostmann-Syndrom
  • zyklische Agranulozytose
  • Retikuläre Dysgenesie

Ältere Literatur

  • Ludwig Heilmeyer, Herbert Begemann: Blut und Blutkrankheiten. In: Ludwig Heilmeyer (Hrsg.): Lehrbuch der Inneren Medizin. Springer-Verlag, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1955; 2. Auflage ebenda 1961, S. 376–449, hier: S. 419–421 (Die Agranulocytose).