Polyvagal-Theorie

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Der Vagusnerv

Die Polyvagustheorie (poly- "viele" + vagal "wandernd") ist eine Sammlung unbewiesener, evolutionärer, neurowissenschaftlicher und psychologischer Konstrukte, die sich auf die Rolle des Vagusnervs bei der Emotionsregulierung, der sozialen Bindung und der Angstreaktion beziehen und 1994 von Stephen Porges eingeführt wurden.

Sie ist bei einigen klinischen Praktikern und Patienten beliebt, wird aber von der aktuellen Sozialneurowissenschaft nicht befürwortet.

Die Polyvagal-Theorie hat ihren Namen vom Vagus, einem Hirnnerv, der die Hauptkomponente des parasympathischen Nervensystems bildet. Die traditionelle Sichtweise des autonomen Nervensystems sieht ein zweiteiliges System vor: den Sympathikus, der eher aktivierend wirkt ("Kampf/Flucht"), und den Parasympathikus, der Gesundheit, Wachstum und Wiederherstellung unterstützt ("Ruhe und Verdauung"). Nach der Polyvagal-Theorie gibt es noch eine dritte Art der Reaktion des Nervensystems - das "System des sozialen Engagements", ein Mischzustand aus Aktivierung und Beruhigung, der eine Rolle bei unserer Fähigkeit spielt, uns sozial zu engagieren (oder auch nicht).

Die Polyvagal-Theorie geht davon aus, dass sich das parasympathische Nervensystem in zwei verschiedene Zweige aufspaltet: ein "ventrales vagales System", das soziales Engagement unterstützt, und ein "dorsales vagales System", das Immobilisierungsverhalten unterstützt, sowohl "Ruhe und Verdauung" als auch defensive Immobilisierung oder "Abschaltung". Die Polyvagal-Theorie wurde vom Verhaltensneurowissenschaftler Stephen W. Porges in seiner Präsidentenrede vor der Society of Psychophysiological Research in Atlanta, Georgia, am 8. Oktober 1994 vorgestellt.

Der Vortrag wurde später in Psychophysiology, 32 (1995) unter dem Titel Orienting in a defensive world: Säugetiermodifikationen unseres evolutionären Erbes. Eine polyvagale Theorie (Porges, 1995).

Die Polyvagal-Theorie ist eine Sammlung von wissenschaftlich nicht erwiesenen evolutionsbiologischen, neurowissenschaftlichen und psychologischen Konzepten, die sich auf die Rolle des Nervus vagus in der Regulation von Emotionen, sozialen Zusammenhängen und bei der Angstreaktion beziehen. Stephen Porges untersuchte das Erleben von Sicherheit und Verbundenheit in Bezug auf das Phänomen Erstarrung/Immobilität. Mit seiner Theorie legte er eine Erklärung für die Emotionsregulation in Zusammenhang mit den Reaktionsmustern Angststarre und Tragestarre vor. Er prägte den Begriff Neurozeption (als Gegensatz zur Perzeption) für die ständige Prüfung der Umgebung auf Gefahren. Laut Porges aktiviert das autonome Nervensystem (ANS) je nach Einschätzung der Umgebung automatisch und nicht mental steuerbar entweder den Zustand Sicherheit/Entspannung, Kampf/Flucht oder einen dritten, die Schreckstarre als ein weiteres Verteidigungs- bzw. Überlebenssystem.

Theorie

Nach dieser Theorie lassen sich drei Organisationsprinzipien unterscheiden:

  1. Hierarchie: Das autonome Nervensystem reagiert in drei Reaktionsmustern, die in einer bestimmten Reihenfolge aktiviert werden.
  2. Neurowahrnehmung: Im Gegensatz zur Wahrnehmung handelt es sich hier um eine Kognition ohne Bewusstsein, ausgelöst durch einen Reiz wie z. B. Gefahr.
  3. Ko-Regulation: Das Bedürfnis, sich sicher genug zu fühlen, um sich auf Beziehungen einzulassen, was traumatisierten Menschen schwerfällt.

Bei der Immobilisierung ist für Porges entscheidend, ob man sich in Sicherheit bewegt oder aufgrund der Rückmeldung der Gefahr erstarrt.

Porges beschreibt die drei neuronalen Schaltkreise als Regulatoren für reaktives Verhalten. Seine Erkenntnisse über das ANS wurden z.B. in der modernen Therapie von Kindheitstraumata berücksichtigt und werden von Traumatherapeuten wie Peter A. Levine und Marianne Bentzen genutzt. Die "Autonomie" der vegetativen Selbstregulation bezieht sich darauf, dass über das VNS biologisch festgelegte, automatisch ablaufende innere Vorgänge angepasst und reguliert werden, die daher vom Menschen nicht direkt, sondern allenfalls indirekt bewusst beeinflusst werden können. Diese bildet sich im Laufe der Kindheit und nach den Anregungen der Eltern oder der Bezugspersonen aus. Haben die Bezugspersonen ein erwachsenes, entwickeltes System, so kann auch das Kind seine Resilienz entwickeln. Ist die Bezugsperson jedoch traumatisiert oder hat sie andere Beeinträchtigungen, kann das Kind kein stressresistentes Erwachsenennervensystem entwickeln.

Die polyvagale Theorie ist nicht einfach eine "Theorie der Entspannungstechniken" wie Autogenes Training und andere. Nach der polyvagalen Theorie ist es möglich, ein Nervensystem zu stärken, das noch nicht erwachsen ist oder durch ein Trauma dysreguliert wurde. Dazu kann man "Pendelübungen" einsetzen: Das Prinzip besteht darin, sich absichtlich aus der Entspannung in leichten Stress und dann wieder in einen sicheren Zustand zu bringen. Durch das Pendeln zwischen diesen Aktivierungszuständen wird das Nervensystem trainiert und findet schneller in die Entspannung zurück.

Erstmals präsentierte Porges die Polyvagal-Theorie in seiner Präsidentschaftsrede vor der Society of Psychophysiological Research in Atlanta am 8. Oktober 1994. Der Vortrag wurde später in der Psychophysiology, 32 (1995) unter dem Titel Orienting in a defensive world: Mammalian Modifications of Our Evolutionary Heritage. A Polyvagal-Theory veröffentlicht (Porges, 1995). Sie erweitert das Verständnis des VNS, das neben An- und Entspannung noch für ein drittes Reaktionsmuster steht. Sie erklärt, wie sich das primitive autonome Nervensystem der Wirbeltiere über den Prozess der Evolution in das autonome Nervensystem der Säugetiere weiterentwickelte. Seine erste Veröffentlichung erfolgte 1995.

Seine Theorie betont die Bedeutung des physiologischen Zustands beim Ausdruck von Verhaltensproblemen und psychiatrischen Störungen.

Sie bietet Strategien für die Beeinflussung der Aktivierungsmuster des Autonomen Nervensystems (ANS). Das ANS schwingt zwischen gesunder Immobilität und gesunder Aggression. Dafür bedient es sich zweier Subsysteme. Das Parasympathische Nervensystem und sein größter Nerv, der paarige Vagusnerv, bringt Ruhe, wodurch Gesunderhaltung und Regeneration möglich werden. Das Sympathische Nervensystem steht für Bewegung. Der Name „Autonomes Nervensystem“ rührt von der Annahme, es gäbe keine Einflussmöglichkeit.

Hypothetische phylogenetische Subsysteme/Stadien

Der Vagusnerv ist ein Hauptbestandteil des autonomen Nervensystems. Die Polyvagustheorie konzentriert sich auf die Struktur und Funktion der beiden efferenten Äste des Vagusnervs, die beide aus dem Rückenmark entspringen. Genauer gesagt wird behauptet, dass jeder Zweig mit einer anderen adaptiven Verhaltensstrategie verbunden ist; die ventralen Zweige sind eher ruhiger Natur und die dorsalen sind eher aktiver Natur. Es wird behauptet, dass das vagale System als Teil des parasympathischen Nervensystems die Urinstinkte hemmt, während das sympathisch-adrenale System im Gegensatz dazu an Mobilisierungsverhalten beteiligt ist. Nach der polyvagalen Theorie sind diese gegensätzlichen Systeme phylogenetisch geordnet und für Reaktionen aktiviert.

Anatomische Hypothese

Porges beschreibt das autonome Nervensystem (ANS) nicht in lediglich zwei gegliederte Äste, sondern unterscheidet in seinem parasympathischen Anteil ein, in der Evolution der Wirbeltiere, phylogenetisch älteres dorsales, nicht myelinisiertes von einem jüngeren, myelinisierten ventralem System:

  • der „ventrale Vaguskomplex“, das sind die viszeromotorischen Anteile der Kiemenbogennerven die ihren Ursprung in den entsprechenden Hirnnervenkern haben: Nervus trigeminus (1. Kiemenbogen), Nervus facialis (2. Kiemenbogen), Nervus glossopharyngeus (3. Kiemenbogen) und Nervus vagus (4. bis 6 Kiemenbogen); er steht für die soziale Aktivierung, (social-engagement-system, SES);
  • das „sympathische Nervensystem“; es steht für Mobilisierung bei Gefahr;
  • der „dorsale Vaguskomplex“, das sind die Nervi splanchnici pelvici (auch Nervi splanchnici pelvici parasympathetici, parasympathische Fasern aus dem sakralen Rückenmark S2 bis S4); Immobilisierung bei Lebensbedrohung.

Das ANS ist nicht verhältnismäßig oder vernünftig. Es wägt seine Reaktion (siehe auch Reiz-Reaktions-Modell) nicht lange ab, wenn es ums Überleben geht. Wenn das ANS dauerhaft aktiviert ist und der Dynamikbereich hochaktiviert bleibt, dann ist der körperliche Stress anhaltend mit allen daraus resultierenden gesundheitlichen Nachteilen. Befindet sich der Mensch zu oft in dem nur für absolute Notfälle vorgesehenen Immobilitätsmodus oder im dysregulierten Dynamikbereich, treten Fettleibigkeit, Diabetes mellitus, Herzerkrankungen, sowie psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angstzustände, sowie die damit verbundenen Drogenproblematiken deutlich häufiger auf. Beeinträchtigt werden auch die höheren kognitiven Funktionen, wie das Treffen von Entscheidungen, das Lösen von Problemen, sowie das Regulieren von Emotionen.

Der paarige Nervus vagus, kurz Vagus, wird auch zehnter Hirnnerv genannt. Er ist der größte Nerv des Parasympathikus und an der Regulation der Tätigkeit fast aller inneren Organe beteiligt. Sein großes Verbreitungsgebiet war auch namensgebend, der Name leitet sich von lat. vagari („umherschweifen“) ab, wörtlich übersetzt heißt er also „der umherschweifende Nerv“. Porges ist heute davon überzeugt, dass der Parasympathikus zweigeteilt ist in einen dorsalen und einen ventralen Vagus.

Der Vagus oder zehnte Hirnnerv überträgt parasympathische Signale zu und von Herz, Lunge und Verdauungstrakt, eine Tatsache, die bereits vor Mitte des 20. Die "Polyvagal-Theorie" wurde 1994 von Stephen Porges, dem Direktor des Brain-Body Center an der Universität von Illinois in Chicago, eingeführt. Wie seit den Anfängen der Neuroanatomie bekannt ist, umfasst das autonome Nervensystem Nervenfasern, die Informationen aus dem Körper an das Gehirn weiterleiten, so genannte afferente Einflüsse. Nach der Polyvagal-Theorie wurde diese Wirkung durch eine adaptive Reaktivität in Abhängigkeit von der phylogenetischen Entwicklung der neuronalen Schaltkreise beobachtet und nachgewiesen. Die polyvagale Theorie besagt, dass die menschliche Mimik mit körperlichen Reaktionen wie Herz- und Verdauungsreaktionen verbunden ist oder diese widerspiegelt.

Porges begründet diese Theorie mit Beobachtungen sowohl aus der Evolutionsbiologie als auch aus der Neurologie.

Es wird behauptet, dass die Zweige des Vagusnervs bei Säugetieren unterschiedlichen evolutionären Stressreaktionen dienen: Der primitivere Zweig soll Immobilisierungsverhalten (z. B. Vortäuschen des Todes) auslösen, während der weiter entwickelte Zweig mit sozialer Kommunikation und Selbstberuhigungsverhalten in Verbindung gebracht wird. Es wird behauptet, dass diese Funktionen einer phylogenetischen Hierarchie folgen, bei der die primitivsten Systeme nur aktiviert werden, wenn die höher entwickelten Funktionen versagen. Diese neuronalen Bahnen regulieren autonome Zustände und den Ausdruck von emotionalem und sozialem Verhalten. Nach dieser Theorie diktiert der physiologische Zustand also die Bandbreite des Verhaltens und der psychologischen Erfahrung.

Die Polyvagal-Theorie stellt weitreichende Behauptungen über die Natur von Stress, Emotionen und sozialem Verhalten auf, für deren Untersuchung traditionell periphere Erregungsindizes wie Herzfrequenz, Cortisolspiegel und Hautleitwert verwendet wurden. Die Polyvagal-Theorie setzt sich für die Messung des Vagustonus beim Menschen als neuartigen Index der Stressanfälligkeit und -reaktivität in Bevölkerungsgruppen mit affektiven Störungen ein.

Der vorgeschlagene dorsal-vagale Komplex (DVC)

Der dorsale Ast des Vagusnervs entspringt im dorsalen motorischen Kern und wird von der Polyvagaltheorie als der phylogenetisch ältere Ast postuliert. Dieser Ast ist nicht myelinisiert und kommt bei den meisten Wirbeltieren vor. Die Polyvagal-Theorie nennt diesen Zweig den "vegetativen Vagus", weil sie ihn mit den ursprünglichen Überlebensstrategien primitiver Wirbeltiere, Reptilien und Amphibien in Verbindung bringt. Unter bestimmten Bedingungen "frieren" diese Tiere ein, wenn sie bedroht werden, um ihre Stoffwechselressourcen zu schonen. Dies stützt sich auf die vereinfachenden Behauptungen der Theorie des dreigliedrigen Gehirns, die aufgrund der vielen Ausnahmen von dieser Regel nicht mehr als zutreffend angesehen werden (siehe Dreigliedriges Gehirn - Status des Modells für weitere Informationen).

Das DVC steuert in erster Linie die subdiaphragmatischen viszeralen Organe, wie z. B. den Verdauungstrakt. Unter normalen Bedingungen hält das DVC die Regulierung dieser Verdauungsprozesse aufrecht. Eine länger andauernde Enthemmung kann jedoch für Säugetiere tödlich sein, da sie zu Apnoe und Bradykardie führt.

Der vorgeschlagene ventrale vagale Komplex (VVC)

Mit der zunehmenden neuronalen Komplexität bei Säugetieren (aufgrund der phylogenetischen Entwicklung) soll sich ein ausgeklügeltes System entwickelt haben, das die Verhaltens- und Gefühlsreaktionen auf eine immer komplexere Umwelt bereichert. Der ventrale Ast des Vagus entspringt im Nucleus ambiguus und ist myelinisiert, um eine schnellere Reaktion zu ermöglichen. In der Polyvagaltheorie wird dieser Zweig als "intelligenter Vagus" bezeichnet, weil er mit der Regulierung des sympathischen "Kampf-oder-Flucht"-Verhaltens durch soziales, affiliatives Verhalten in Verbindung gebracht wird. Zu diesen Verhaltensweisen gehören soziale Kommunikation, Selbstberuhigung und Beruhigung. Mit anderen Worten: Dieser Zweig des Vagus hemmt oder enthemmt je nach Situation die limbischen Abwehrkreise. Anmerkung: Verteidigungsverhalten ausschließlich dem limbischen System zuzuschreiben, ist eine zu starke Vereinfachung, da es durch wahrgenommene Bedrohungen ausgelöst wird und somit ein Zusammenspiel von Gehirnbereichen, die sensorische Integration, Gedächtnis und semantisches Wissen mit dem limbischen System leisten, erforderlich ist, um ausgelöst zu werden. In ähnlicher Weise erfordert die Regulierung von Emotionen ein komplexes Zusammenspiel von höheren kognitiven und limbischen Arealen. Der Nervus vagus vermittelt die Kontrolle der supradiaphragmatischen viszeralen Organe, wie Speiseröhre, Bronchien, Rachen und Kehlkopf. Er übt auch einen wichtigen Einfluss auf das Herz aus. Wenn der vagale Tonus für den Herzschrittmacher hoch ist, wird eine Grund- oder Ruheherzfrequenz erzeugt. Mit anderen Worten: Der Vagus wirkt wie eine Bremse, die die Herzfrequenz begrenzt. Ist der Vagustonus jedoch ausgeschaltet, ist die Hemmung des Herzschrittmachers gering, und nach der Polyvagustheorie kann in Stresssituationen eine schnelle Mobilisierung ("Kampf/Flucht") erfolgen, ohne dass das Sympathikus-Nebennieren-System aktiviert werden muss, da die Aktivierung mit hohen biologischen Kosten verbunden ist. Anmerkung: Die Rolle des Vagusnervs bei der Senkung der Herzfrequenz ist zwar gut belegt, aber die Vorstellung, dass eine "Kampf-oder-Flucht"-Reaktion ausgelöst werden kann, ohne das sympathische Nervensystem einzuschalten, wird durch keinerlei Beweise gestützt.

Neurozeption

Porges prägte den Begriff Neurozeption. Er bezeichnet die Fähigkeit des ANS – automatisch und ohne bewusste Wahrnehmung – die Umgebung laufend darauf zu prüfen, ob sie sicher, bedrohlich oder lebensgefährlich ist. Je nach Einschätzung, aktiviert das ANS einen der drei Zustände, Sicherheit (der „ventrale Vaguskomplex“ ist aktiv), Kampf/Flucht (der Sympathikus ist aktiv) oder Schreckstarre (Stupor) (der „dorsale Vaguskomplex“ ist aktiv). Anders als bei der Wahrnehmung (Perzeption) ist es hier ein Erkennen ohne Gewahrsein, ausgelöst durch einen Reiz wie Gefahr.

Der vagale Tonus als physiologischer Marker für Stress

Um die Homöostase aufrechtzuerhalten, reagiert das zentrale Nervensystem über neuronale Rückkopplungen ständig auf Umweltreize. Stressige Ereignisse stören die rhythmische Struktur der autonomen Zustände und damit auch das Verhalten. Da der Vagus über die Regulierung der Herzfrequenz eine so wichtige Rolle im peripheren Nervensystem spielt, schlägt Porges vor, dass die Amplitude der respiratorischen Sinusarrhythmie (RSA) ein guter Index für die Aktivität des parasympathischen Nervensystems über den kardialen Vagus ist. Das heißt, RSA wird als ein messbarer, nichtinvasiver Weg vorgeschlagen, um zu sehen, wie der Vagus die Herzfrequenzaktivität als Reaktion auf Stress moduliert. Wenn dies zutrifft, könnte diese Methode nützlich sein, um individuelle Unterschiede in der Stressreaktivität zu messen.

RSA ist das weit verbreitete Maß für die Amplitude des Herzfrequenzrhythmus in Verbindung mit der Spontanatemfrequenz. Die Forschung hat gezeigt, dass die Amplitude des RSA ein genauer Indikator für den efferenten Einfluss des Vagus auf das Herz ist. Da die hemmenden Wirkungen des VVC-Zweigs des Vagus ein breites Spektrum an adaptiven, prosozialen Verhaltensweisen ermöglichen, wurde die Theorie aufgestellt, dass Personen mit einem höheren Vagustonus in der Lage sind, ein größeres Spektrum an solchen Verhaltensweisen zu zeigen. Andererseits wird ein verminderter Vagustonus mit Krankheiten und medizinischen Komplikationen in Verbindung gebracht, die das ZNS beeinträchtigen. Diese Komplikationen können die Fähigkeit einer Person, angemessen auf Stress zu reagieren, verringern.

Klinische Anwendungen beim menschlichen Fötus

Gesunde menschliche Föten haben eine hohe Variabilität der Herzfrequenz, die durch den Vagus vermittelt wird. Andererseits sind Verlangsamungen der Herzfrequenz, die ebenfalls durch den Vagus vermittelt werden, ein Zeichen für fetalen Stress. Genauer gesagt führt ein längerer Entzug des vagalen Einflusses auf das Herz zu einer physiologischen Anfälligkeit für den Einfluss der dorsalen vagalen Steuerung, was wiederum eine Bradykardie (sehr niedrige Herzfrequenz) zur Folge hat. Dem Einsetzen dieser Verlangsamung geht jedoch in der Regel eine vorübergehende Tachykardie voraus, die die unmittelbaren Auswirkungen des Entzugs der ventralen vagalen Kontrolle widerspiegelt.

Ergebnisse der Porges'schen Theorie

Laut Bessel van der Kolk, Professor für Psychiatrie an der Boston University School of Medicine:

Die Polyvagale Theorie hat uns ein differenzierteres Verständnis der Biologie von Sicherheit und Gefahr vermittelt, das auf dem subtilen Zusammenspiel zwischen den viszeralen Erfahrungen unseres eigenen Körpers und den Stimmen und Gesichtern der Menschen um uns herum beruht. Es erklärt, warum ein freundliches Gesicht oder ein beruhigender Tonfall unsere Gefühle dramatisch verändern kann. Es verdeutlicht, warum wir uns ruhig und sicher fühlen können, wenn wir wissen, dass wir von den wichtigen Menschen in unserem Leben gesehen und gehört werden, und warum das Ignorieren oder Abweisen von Menschen Wutreaktionen oder einen mentalen Zusammenbruch auslösen kann. Sie half uns zu verstehen, warum die Einstimmung auf eine andere Person uns aus einem desorganisierten und ängstlichen Zustand herausführen kann. Kurz gesagt, Porges' Theorie lässt uns über die Auswirkungen von Kampf oder Flucht hinausblicken und rückt soziale Beziehungen in den Mittelpunkt unseres Verständnisses von Trauma. Sie schlägt auch neue Heilungsansätze vor, die sich auf die Stärkung des körpereigenen Systems zur Erregungsregulierung konzentrieren.

Andere sind mit dieser Einschätzung nicht einverstanden und halten die Theorie für einen unnötigen und unbegründeten Konflikt, der dem öffentlichen Dialog aufgezwungen wird.

Kritik

Paul Grossman vom Universitätsspital Basel sagte am 18. Januar 2016, es gäbe eventuell direkte Beweise, die ihm jedoch nicht bekannt sind. Auf jeden Fall seien polyvagale Vermutungen in der Psychologie-, Psychophysiologie- und Therapieliteratur sehr populär geworden. Es scheint daher höchste Zeit, so Grossman, den Wert der Ideen von Stephen Porges kritisch zu hinterfragen.

In der Deutschen Zeitschrift für Osteopathie werden neurologische Aussagen der Polyvagaltheorie kritisiert und unter anderem die Wortwahl „polyvagal“ eine „irreführende Fehlbezeichnung“ genannt. Das funktionelle Konstrukt des Systems des sozialen Engagements sollte nicht mit dem Begriff „polyvagal“ benannt werden.

In dem o. g. Beitrag auf researchgate vom 18. Januar 2016 wurden einige physiologische Grundannahmen der Theorie in Frage gestellt. Eine wissenschaftliche Diskussion über die Polyvagaltheorie scheint kaum stattzufinden, in Lehrbücher der Neuropsychologie scheint sie nicht Eingang gefunden zu haben.

Die Polyvagal-Theorie hat bisher keine Phänomene oder experimentellen Daten erklärt, die über das hinausgehen, was durch die Bindungstheorie, die Forschung zur emotionalen Selbstregulierung, die psychologischen Stressmodelle, das neuroviszerale Integrationsmodell und die Neuroimaging-Studien aus dem Bereich der sozialen Neurowissenschaften genauer erklärt wird. Die Anziehungskraft dieses Modells mag darin liegen, dass es eine sehr einfache (wenn auch ungenaue) neuronale/evolutionäre Hintergrundgeschichte für bereits gut etablierte psychiatrische Erkenntnisse liefert.

Ungereimtheiten und Mangel an Beweisen

Kritiker der polyvagalen Theorie weisen darauf hin, dass ihre Prämissen nicht durch empirische, wissenschaftliche Forschung gestützt werden. Paul Grossman vom Universitätsspital Basel argumentiert, dass es keine Beweise dafür gibt, dass der dorsale motorische Kern (DMN) ein evolutionär primitiveres Zentrum des parasympathischen Systems des Hirnstamms ist als der Nucleus ambiguus (NA), und dass es keine Beweise für die Behauptung gibt, dass eine plötzliche Verringerung der Herzfrequenz, die durch extreme emotionale Umstände ausgelöst wird (wie z.B. eine traumabedingte Dissoziation), auf die efferente Aktivität des DMN zum Herzen zurückzuführen ist. Tatsächlich scheint es keinen Beweis dafür zu geben, dass eine solche Abnahme bei traumabedingter Dissoziation überhaupt stattfindet.

Grossman weist auch darauf hin, dass sogar die Ergebnisse von Porges' eigener Studie an zwei Eidechsenarten aufgrund einer ungeeigneten Messung der Herzfrequenzvariabilität fehlerhaft waren.

Grossmans Kritik richtet sich zwar nicht direkt gegen die klinischen Spekulationen der Polyvagal-Theorie, widerspricht aber deren Prämissen. Insbesondere untergräbt sie die Annahme, dass es eine phylogenetische Hierarchie gibt, bei der ein vagales System primitiver ist als das andere und daher nur dann aktiviert wird, wenn das höher entwickelte System ausfällt (wie bei Dissoziation oder akutem Trauma). Seit etwa einem Jahrhundert ist bekannt, dass "eine Differenzierung der viszeralen efferenten Säule des Vagusnervs in einen dorsalen motorischen Kern und einen ventrolateralen Kern (Nucleus ambiguus) erstmals bei Reptilien beobachtet wird (Ariens Kappers, '12; Ariens Kappers et al., '36; Addens, '33)". Dies widerspricht der Behauptung von Polyvagus, dass der Nucleus ambiguus nur bei Säugetieren vorkommt. Neuere Funde bei Lungenfischen von myelinisierten Vagusnervenfasern, die vom Nucleus ambiguus zum Herzen führen, weisen in die gleiche Richtung. Darüber hinaus stellen Monteiro et al. (2018) fest, dass "die Mechanismen, die [Porges] als ausschließlich säugetypisch identifiziert, unbestreitbar im Lungenfisch vorhanden sind, der an der evolutionären Basis der luftatmenden Wirbeltiere steht."

In der polyvagalen Theorie wird der Begriff Vagustonus mit der respiratorischen Sinusarrhythmie (RSA) gleichgesetzt, von der angenommen wird, dass sie mit Dimensionen der Psychopathologie verbunden ist. In einer Reihe von Forschungsstudien wurden die RSA-Reaktionen in einer Reihe von Dimensionen der Psychopathologie bewertet, aber eine umfassende Meta-Analyse hat gezeigt, dass kein klinisch sinnvoller Zusammenhang zwischen Psychopathologie und RSA-Reaktivität gefunden werden kann. Grossman & Taylor (2005) überprüften Ergebnisse, die darauf hinweisen, dass der RSA kein zuverlässiger Marker für den vagalen Tonus ist, da er neben vagalen Einflüssen auch von respiratorischen Variablen und sympathischen (beta-adrenergen) Einflüssen abhängt.

Durch die Überbetonung der Rolle des Vagusnervs bei der Entscheidung zwischen Einfrieren und anderen Furchtreaktionen lässt die Theorie jahrzehntelange neurowissenschaftliche Erkenntnisse über die Ursprünge der Einfrierreaktion und Furchtreaktionen im Allgemeinen außer Acht. Während der Vagusnerv zweifellos eine Rolle bei der Übertragung und Integration emotionsbezogener Signale zwischen dem Gehirn und dem Rest des Körpers spielt (eine Tatsache, die schon lange vor dem Aufkommen polyvagaler Spekulationen feststand, siehe Vagusstoff), gibt es keinen Hinweis darauf, dass er irgendeine Kontrolle darüber hat, ob eine Freeze-Reaktion ausgelöst wird oder nicht.

Aus methodischer Sicht erfüllen viele Behauptungen nicht die Kriterien einer wissenschaftlichen Theorie, weil sie zu vage formuliert sind, um empirisch überprüft werden zu können. So wird beispielsweise die genaue Funktionsweise der beiden vorgeschlagenen unterschiedlichen "vagalen Systeme" oder des "Systems des sozialen Engagements" nicht erklärt, ebenso wenig wie die der "Gesicht-Herz-Verbindung", die angeblich im ventralen Ast des Vagusnervs verkörpert ist. Darüber hinaus erklären die Behauptungen keine Erkenntnisse, die über das hinausgehen, was durch Thayers Neuroviscerales Integrationsmodell genauer erklärt wird.

Porges erwähnt zwar andere Hirnareale, von denen bekannt ist, dass sie an Furchtreaktionen beteiligt sind (z. B. die Amygdala und das periaquäduktale Grau), integriert sie aber nicht in die Beschreibung seiner eigenen hypothetischen Systeme. Der vorgeschlagene anatomische Unterschied zwischen den Ursprüngen des Vagusnervs bei Säugetieren und anderen Wirbeltieren wäre, selbst wenn er durch neuere Studien bestätigt würde, eine unzureichende Grundlage für die Erklärung komplexer Unterschiede im sozialen und emotionalen Verhalten.

Darüber hinaus führt die polyvagale Theorie den Begriff "Neurowahrnehmung" für "einen neuronalen Prozess, der Menschen und andere Säugetiere in die Lage versetzt, soziale Verhaltensweisen auszuüben, indem sie sichere von gefährlichen Kontexten unterscheiden". Sie versucht also, mehrere Kategorien psychologischer Phänomene zu erfassen, von denen jede für sich ein breites Forschungsgebiet darstellt: Angst, Bedrohungswahrnehmung, Sozialverhalten und Emotionsregulation. Die neuronalen Substrate für viele der einbezogenen Phänomene sind zumindest ansatzweise bekannt und umfassen eine große Anzahl von Hirnstrukturen, einschließlich, aber nicht beschränkt auf den Vagusnerv. Die Polyvagal-Theorie erklärt den Mechanismus keines dieser Phänomene genau, was eher zu einer starken Vereinfachung als zu einer Erweiterung oder Verfeinerung des vorhandenen Wissens führt.

Bücher

  • Deb Dana: The Polyvagal Theory in Therapy, Engaging the Rhythm of Regulation (Norton Series on Interpersonal Neurobiology, Band 0), WW Norton & Co; Illustrierte Ausgabe (2018), ISBN 978-0393712377
  • Ulrich F. Lanius, Sandra L. Paulsen, Frank M. Corrigan: Neurobiologie und Behandlung der traumatischen Dissoziation: Towards an Embodied Self Springer Verlag, 2014 www.books.google.de
  • S. W. Porges: The polyvagal perspective. In: Biologische Psychologie. Band 74, Nummer 2, Februar 2007, S. 116-143, doi:10.1016/j.biopsycho.2006.06.009, PMID 17049418, PMC 1868418 (Rezension).
  • Holly Bridges: Reframe Your Thinking Around Autism: How the Polyvagal Theory and Brain Plasticity Help Us Make Sense of Autism ISBN 978-1849056724 Jessica Kingsley Publishers 2015
  • Robert Bright: The Polyvagal Theory: The Simplified Guide to Understanding the Autonomic Nervous System and the Healing Power of the Vagus Nerve - Learn to Manage Emotional Stress and PTSD Through Neurobiology White Publishing Ltd 2020, ISBN 978-1-80111-968-9

Tests

Porges untersuchte in seiner Polyvagal-Theorie das komplexe Zusammenspiel von parasympathischem und sympathischem Nervensystem. Das autonome Nervensystem ist nicht nur ein peripheres neurales System, es beinhaltet auch Hirnstammstrukturen, die den Zustand der Eingeweide überwachen und die Leistung der mit den Eingeweideorganen (zum Beispiel Herz, Lunge, Darm etc.) kommunizierenden autonomen Nerven kontrollieren. Durch neurale Leitungen beeinflussen afferente (hinbringende) Informationen von den Eingeweiden die höheren Hirnstrukturen. Der Zustand der höheren Hirnstrukturen beeinflusst seinerseits die neurale Einspeisung an die Eingeweide.

Rezeption

Seine Erkenntnisse über das ANS fanden Berücksichtigung u. a. in der modernen Therapie von Bindungstraumata und werden von Trauma-Therapeuten wie Stephen Gilligan, Jeffrey M. Schwartz, Marianne Bentzen und Ulrich F. Lanius angewandt. Auch Peter Levine und Gunther Schmidt beziehen seit Jahrzehnten seine Theorie in ihre Arbeit ein.