Derealisation

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Klassifikation nach ICD-10
F48.1 Depersonalisations- und Derealisationssyndrom
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Derealisation (oder präziser Derealisationserleben) bezeichnet eine zeitweilige oder dauerhafte abnorme oder verfremdete Wahrnehmung der Umwelt (etwa von Umgebung, Personen und Gegenständen). Die Umwelt scheint dabei häufig als Ganzes plötzlich unvertraut, auch wenn jedes Detail problemlos wiedererkannt und eingeordnet werden kann. Derealisation steht in enger Beziehung zum Depersonalisationserleben, bei dem die eigene Person als fremd empfunden wird.

Wenn diese Wahrnehmungserlebnisse das Ausmaß einer psychischen Störung mit Krankheitswert erreichen, spricht man von einem Depersonalisations-Derealisationssyndrom. Beide Arten werden unter der Gruppe der Ich-Störungen zusammengefasst, da letztlich die Integrität, das Einheitserleben und die klare Grenze zwischen Ich und Umwelt gestört sind. Derealisationserleben leichterer Art sind nicht ungewöhnlich und können beim psychisch Gesunden zum Beispiel in Situationen mit großer emotionaler Beteiligung oder bei ausgeprägter Müdigkeit und Erschöpfungszuständen entstehen. Das Erleben solcher Zustände kann auch durch Einnahme psychotroper Substanzen (etwa LSD, Alkohol, Cannabis oder bestimmter Medikamente) hervorgerufen werden.

Derealisationserleben kann ebenso als Symptom einer Angststörung oder einer starken Depression auftreten. Im Rahmen von Angststörungen, wie etwa einer Panikstörung, kann eine Derealisation während einer Panikattacke bis zeitlich kurz danach erlebt werden. Wenn die Derealisation als Auslösereiz für eine erneute Panikattacke auftritt, kann sich diese zu einem zentralen Symptom der Panikstörung entwickeln.

Derealisation ist eine veränderte Wahrnehmung der Außenwelt, die dazu führt, dass die Betroffenen sie als unwirklich, entfernt, verzerrt oder verfälscht wahrnehmen. Zu den weiteren Symptomen gehört das Gefühl, dass es der eigenen Umgebung an Spontaneität, emotionaler Färbung und Tiefe fehlt. Es handelt sich um ein dissoziatives Symptom, das in Momenten starken Stresses auftreten kann.

Derealisation ist eine subjektive Erfahrung, die sich auf die Wahrnehmung der Außenwelt bezieht, während Depersonalisation ein verwandtes Symptom ist, das durch Dissoziation gegenüber dem eigenen Körper und mentalen Prozessen gekennzeichnet ist. Die beiden Symptome treten häufig in Verbindung miteinander auf, können aber auch unabhängig voneinander auftreten.

Chronische Derealisation ist eher selten und kann durch eine okzipital-temporale Dysfunktion verursacht werden. Derealisation über einen längeren Zeitraum oder wiederkehrende Episoden können auf viele psychische Störungen hindeuten und erheblichen Leidensdruck verursachen. Vorübergehende Derealisationssymptome treten in der Allgemeinbevölkerung jedoch nur wenige Male im Leben auf, mit einer Lebenszeitprävalenz von bis zu 26-74 % und einer Prävalenz von 31-66 % zum Zeitpunkt eines traumatischen Ereignisses.

Beschreibung

Die Erfahrung der Derealisation kann als eine immaterielle Substanz beschrieben werden, die eine Person von der Außenwelt trennt, wie z. B. ein Sinnesnebel, eine Glasscheibe oder ein Schleier. Die Betroffenen berichten, dass es dem, was sie sehen, an Lebendigkeit und emotionaler Färbung fehlt. Die emotionale Reaktion auf das visuelle Erkennen von geliebten Menschen kann deutlich reduziert sein. Déjà-vu- oder Jamais-vu-Gefühle sind häufig. Vertraute Orte können fremd, bizarr und surreal wirken. Man ist sich vielleicht nicht einmal sicher, ob das, was man wahrnimmt, tatsächlich der Realität entspricht oder nicht. Die Welt, die der Betroffene wahrnimmt, kann sich anfühlen, als würde sie durch einen Dolly-Zoom-Effekt gehen. Solche Wahrnehmungsstörungen können sich auch auf den Hör-, Geschmacks- und Geruchssinn auswirken.

Der Grad der Vertrautheit mit der Umgebung gehört zu der sensorischen und psychologischen Identität, der Gedächtnisgrundlage und der Geschichte, die man beim Erleben eines Ortes hat. Wenn sich Personen in einem Zustand der Derealisierung befinden, blockieren sie diese identifizierende Grundlage für die Erinnerung. Dieser "Blockierungseffekt" führt zu einer Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der Umgebung während einer Derealisationsepisode und dem, was dieselbe Person ohne eine Derealisationsepisode wahrnehmen würde.

Häufig tritt die Derealisation im Zusammenhang mit ständigen Sorgen oder "aufdringlichen Gedanken" auf, die sich nur schwer abstellen lassen. In solchen Fällen kann sich die Derealisation unbemerkt zusammen mit der zugrundeliegenden Angst, die mit diesen beunruhigenden Gedanken verbunden ist, aufbauen und erst nach einer Krise, oft einer Panikattacke, erkannt werden, die dann schwer oder gar nicht mehr zu ignorieren ist. Diese Art von Angst kann für die Betroffenen lähmend sein und zu Vermeidungsverhalten führen. Diejenigen, die dieses Phänomen erleben, machen sich möglicherweise Sorgen über die Ursache ihrer Derealisierung. Es ist oft schwer zu akzeptieren, dass ein solch beunruhigendes Symptom einfach eine Folge der Angst ist, und die Betroffenen denken oft, dass die Ursache etwas Ernsteres sein muss. Dies kann wiederum zu mehr Angst führen und die Derealisation verschlimmern. Es hat sich gezeigt, dass Derealisation auch den Lernprozess beeinträchtigt, mit kognitiven Beeinträchtigungen beim unmittelbaren Erinnern und visuell-räumlichen Defiziten. Dies lässt sich am besten so verstehen, dass der Betroffene das Gefühl hat, die Ereignisse in der dritten Person zu sehen; daher kann er die Informationen nicht richtig verarbeiten, vor allem nicht über die Sehbahn.

Menschen, die unter Derealisation leiden, beschreiben, dass sie das Gefühl haben, die Welt durch einen Fernsehbildschirm zu sehen. Zusammen mit Komorbiditäten wie Depressionen und Angstzuständen und anderen ähnlichen Gefühlen, die mit Derealisation einhergehen, kann dies ein Gefühl der Entfremdung und Isolation zwischen der Person mit Derealisation und ihrer Umgebung hervorrufen. Dies ist umso mehr der Fall, als die Derealisationsstörung in klinischen Einrichtungen typischerweise nur spärlich diagnostiziert und anerkannt wird. Die Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung beträgt bis zu 5 % und steigt bei traumatisierten Personen auf bis zu 37 % an.

Zu den Teilsymptomen gehört auch die Depersonalisierung, das Gefühl, ein "Beobachter" zu sein bzw. einen "Beobachtungseffekt" zu haben. Es ist, als ob man als eine separate Entität auf dem Planeten existiert, wobei alles, was geschieht, durch die eigenen Augen erlebt und abwechselnd wahrgenommen wird (ähnlich wie bei einer First-Person-Kamera in einem Spiel, z. B. Fernsehen oder Computer-Vision).

Verursacht

Derealisation kann mit neurologischen Erkrankungen wie Epilepsie (insbesondere Schläfenlappenepilepsie), Migräne und leichten Schädel-Hirn-Traumata einhergehen. Es besteht eine Ähnlichkeit zwischen visueller Hypoemotionalität, einer reduzierten emotionalen Reaktion auf betrachtete Objekte, und Derealisation. Dies deutet auf eine Störung des Prozesses hin, durch den die Wahrnehmung emotional gefärbt wird. Diese qualitative Veränderung im Wahrnehmungserleben kann dazu führen, dass alles Gesehene als unwirklich oder losgelöst empfunden wird.

Die Fälle von wiederkehrender oder chronischer Derealisation bei Personen, die ein extremes Trauma erlebt haben und/oder unter posttraumatischem Stress (PTSD) leiden, wurden in vielen wissenschaftlichen Studien genau untersucht, deren Ergebnisse auf einen starken Zusammenhang zwischen den Störungen hindeuten, wobei eine unverhältnismäßig große Anzahl von Patienten mit posttraumatischem Stress über wiederkehrende Gefühle der Derealisation und Depersonalisation berichtet (bis zu 30 % der Betroffenen) im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung (nur etwa 2 %), insbesondere bei denjenigen, die das Trauma in der Kindheit erlebt haben. Verschiedene Psychologen haben viele Möglichkeiten vorgeschlagen, um diese Ergebnisse zu erklären. Die am weitesten akzeptierte ist, dass das Erleben eines Traumas dazu führen kann, dass sich der Betroffene von seiner Umgebung und seiner Wahrnehmung distanziert, mit dem Ziel, sich anschließend von dem Trauma und (insbesondere im Fall der Depersonalisation) von seiner emotionalen Reaktion darauf zu distanzieren. Dies kann entweder ein bewusster Bewältigungsmechanismus oder eine unwillkürliche, reflexartige Reaktion sein, je nach den Umständen. Dies erhöht möglicherweise nicht nur das Risiko, Probleme mit Derealisation und der entsprechenden Störung zu bekommen, sondern mit allen relevanten dissoziativen Störungen. Im Falle eines Kindheitstraumas sind Kinder nicht nur anfälliger für eine solche Reaktion, da sie weniger in der Lage sind, gesündere Strategien zur Bewältigung der emotionalen Auswirkungen eines Traumas anzuwenden, sondern es gibt auch zahlreiche Belege dafür, dass ein Trauma erhebliche nachteilige Auswirkungen auf das Lernen und die Entwicklung haben kann, zumal diejenigen, die in der Kindheit ein Trauma erleben, mit weitaus geringerer Wahrscheinlichkeit eine angemessene elterliche Erziehung erfahren haben. Dies sind Faktoren, die nachweislich die Anfälligkeit für maladaptive psychische Zustände erhöhen, wozu natürlich auch dissoziative Störungen und in der Folge Derealisierungssymptome gehören.

In einigen neurophysiologischen Studien wurden Störungen im frontal-temporalen Kortex festgestellt, was die Korrelation zwischen Derealisationssymptomen und Schläfenlappenstörungen erklären könnte. Dies wird auch durch Berichte über Personen mit Frontallappenepilepsie gestützt, wobei Personen mit Epilepsie des dorsalen prämotorischen Kortex über Depersonalisationssymptome berichteten, während Personen mit Temporallappenepilepsie Derealisationssymptome aufwiesen. Dies deutet darauf hin, dass eine Fehlfunktion dieser spezifischen Hirnregionen die Ursache für diese dissoziativen Symptome sein könnte, oder zumindest, dass diese Hirnregionen stark beteiligt sind.

Derealisation kann sich möglicherweise als indirekte Folge bestimmter vestibulärer Störungen wie Labyrinthitis manifestieren. Man nimmt an, dass dies auf die Angst zurückzuführen ist, die durch Schwindel entsteht. Eine alternative Erklärung besagt, dass eine mögliche Auswirkung der vestibulären Dysfunktion Reaktionen in Form einer Modulation der noradrenergen und serotonergen Aktivität aufgrund einer falschen Zuordnung vestibulärer Symptome zum Vorhandensein einer drohenden physischen Gefahr umfasst, was zum Erleben von Angst oder Panik führt, die dann Gefühle der Derealisierung hervorrufen. Ebenso ist die Derealisation ein häufiges psychosomatisches Symptom bei verschiedenen Angststörungen, insbesondere bei Hypochondrie. Allerdings wird die Derealisation gegenwärtig als eigenständiges psychologisches Problem betrachtet, da sie als Symptom bei verschiedenen Pathologien auftritt.

Derealisation und dissoziative Symptome wurden in einigen Studien mit verschiedenen physiologischen und psychologischen Unterschieden bei Personen und ihrer Umgebung in Verbindung gebracht. Es wurde festgestellt, dass labile Schlaf-Wach-Zyklen (labil im Sinne von leichter zu wecken) mit einigen ausgeprägten Veränderungen im Schlaf, wie traumähnliche Zustände, hypnogogische und hypnopompische Halluzinationen, nächtliche Störungen und andere Störungen im Zusammenhang mit dem Schlaf möglicherweise ursächlich sein oder die Symptome in gewissem Maße verbessern könnten. Derealisation kann auch ein Symptom schwerer Schlafstörungen und psychischer Störungen wie Depersonalisationsstörung, Borderline-Persönlichkeitsstörung, bipolare Störung, Schizophrenie, dissoziative Identitätsstörung und anderer psychischer Zustände sein.

Cannabis, Psychedelika, Dissoziativa, Antidepressiva, Koffein, Distickstoffmonoxid, Albuterol und Nikotin können Gefühle der Derealisierung oder ihnen ähnliche Empfindungen hervorrufen, insbesondere wenn sie im Übermaß eingenommen werden. Es kann auch die Folge eines Alkohol- oder Benzodiazepin-Entzugs sein. Der Entzug von Opiaten kann ebenfalls Gefühle der Derealisation hervorrufen, oft zusammen mit psychotischen Symptomen wie Angst, Paranoia und Halluzinationen.

Interozeptive Expositionsübungen wurden in der Forschung als Mittel zur Herbeiführung von Derealisation sowie des damit verbundenen Phänomens der Depersonalisation bei Menschen eingesetzt, die auf ein hohes Maß an Angst reagieren. Zu den Übungen, die nachweislich erfolgreich waren, gehören zeitlich begrenzte Intervalle der Hyperventilation oder das Anstarren eines Spiegels, eines Punktes oder einer Spirale.

Populäre Kultur

Das Konzept der Derealisierung wird in dem 2021 erschienenen Comedy-Special von Bo Burnham mit dem Titel Bo Burnham: Inside erwähnt, insbesondere in dem Lied That Funny Feeling".

Depersonalisations-Derealisationssyndrom

Beim Depersonalisations- und Derealisationssyndrom (ICD-10-Code ICD-10 F48.1) existiert ein Gefühl der Unwirklichkeit gegenüber der Umwelt: Objekte, Menschen oder die gesamte Umgebung werden als fremd, unvertraut, unwirklich, roboterhaft, fern, künstlich, zu klein oder zu groß, farblos oder leblos erlebt. Viele Betroffene geben an, ihre Umwelt wie „unter einer Käseglocke“ oder „in Watte gepackt“ zu erleben.

Derealisation geht in der Regel mit Depersonalisation einher und ist Kennzeichen der sogenannten Wahnstimmung. Sie kann als Symptom im Rahmen einer Depression oder Schizophrenie vorkommen. Um von einer Derealisation/Depersonalisation sprechen zu können, müssen laut ICD-10-Klassifikation mindestens eines der ersten beiden Kriterien sowie die letzten beiden Kriterien erfüllt sein.

  • Die eigenen Gefühle werden als fern, fremd und nicht zur eigenen Identität zählend gewertet (Depersonalisationssymptomatik).
  • Die Umgebung wird als fremd, leblos, unwirklich etc. angenommen (Derealisationssymptomatik).
  • Der/die Betroffene akzeptiert, dass es sich hierbei nicht um ein durch äußere direkte Ursachen entstandenes Störungsbild handelt, sondern dass hier ein subjektiver spontaner Wechsel stattgefunden hat (Krankheitseinsicht).
  • Dem/der Betroffenen ist bewusst, dass es sich hierbei nicht um einen toxisch verursachten Verwirrtheits- oder epileptischen Zustand handelt.