Reaktivpanzerung

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M60A1 Patton-Panzer mit israelischer Blazer ERA.
Ein T-72-Panzer, der mit reaktiven Panzersteinen beschichtet ist.

Reaktive Panzerung ist eine Art von Fahrzeugpanzerung, die auf den Aufprall einer Waffe reagiert, um den Schaden am zu schützenden Fahrzeug zu verringern. Sie schützt am effektivsten gegen Hohlladungen und speziell gehärtete Penetratoren mit kinetischer Energie. Der gängigste Typ ist die explosive reaktive Panzerung (ERA), aber es gibt auch Varianten wie die selbstbegrenzende explosive reaktive Panzerung (SLERA), die nicht-energetische reaktive Panzerung (NERA), die nicht-explosive reaktive Panzerung (NxRA) und die elektrische Panzerung. NERA- und NxRA-Module können im Gegensatz zu ERA und SLERA mehreren Treffern standhalten, aber ein zweiter Treffer an genau derselben Stelle kann potenziell jedes dieser Module durchschlagen, da die Panzerung an dieser Stelle beeinträchtigt wird.

Im Wesentlichen wirken alle Panzerabwehrmunitionen, indem sie die Panzerung durchdringen und dann entweder die Besatzung im Inneren töten, lebenswichtige mechanische Systeme außer Gefecht setzen oder Abplatzungen verursachen, die die Besatzung töten - oder alle drei Möglichkeiten. Eine reaktive Panzerung kann durch mehrere Treffer an der gleichen Stelle zerstört werden, z. B. durch Tandemladungswaffen, die zwei oder mehr Hohlladungen in schneller Folge abfeuern. Ohne Tandem-Ladungen ist es viel schwieriger, zweimal genau dieselbe Stelle zu treffen.

Reaktivpanzerung an einem polnischen PT-91 Twardy

Reaktivpanzerungen stellen eine besondere Methode dar, Panzerfahrzeuge vor Beschuss zu schützen. Die ersten Experimente mit Reaktivpanzerung, damals „Gegenexplosion“ (russ. kontrvzryv) wurden 1949 in der Sowjetunion durchgeführt. In den 1960er-Jahren gab es erste Prototypen. Aufgrund eines Unfalles und der vorherrschenden Meinung, dass die Panzer gut genug geschützt seien, wurde die Forschung jedoch eingestellt und erst in den 1980er-Jahren wieder aufgenommen. Parallel dazu entwickelte 1967/68 der deutsche Ingenieur Manfred Held in Kooperation mit den Israelischen Verteidigungsstreitkräften (IDF) die Blazer-Reaktivpanzerung. Diese kam im Libanonkrieg 1982 erstmals zum Einsatz und wurde als sehr effektiv beurteilt.

Geschichte

Reaktive Panzerung "DYNA" für den Kampfpanzer T-72

Die Idee der Gegenexplosion (russisch kontrvzryv) bei Panzern wurde erstmals 1949 vom Wissenschaftlichen Forschungsinstitut für Stahl (NII Stali) in der UdSSR von dem Akademiker Bogdan Vjacheslavovich Voitsekhovsky (1922-1999). Die ersten Vorserienmodelle wurden in den 1960er Jahren hergestellt. Eine unzureichende theoretische Analyse während eines Tests führte jedoch dazu, dass alle Elemente des Prototyps gesprengt wurden. Aus verschiedenen Gründen, u. a. wegen des Unfalls und weil man glaubte, die sowjetischen Panzer seien ausreichend gepanzert, wurde die Forschung eingestellt. Bis 1974 wurden keine weiteren Forschungen durchgeführt, als das Ministerium für Verteidigungsindustrie einen Wettbewerb für das beste Panzerschutzprojekt ausschrieb.

Ein westdeutscher Forscher, Manfred Held, führte in den Jahren 1967-1969 ähnliche Arbeiten mit den IDF durch. Die auf der Grundlage der gemeinsamen Forschung entwickelte reaktive Panzerung wurde erstmals im Libanonkrieg 1982 an israelischen Panzern installiert und als sehr wirksam eingestuft.

Explosiv-reaktive Panzerung

Die fortschrittliche Kontakt-5-Sprengstoffpanzerung dieses T-90S ist in Plattenpaaren angeordnet und verleiht dem Turm sein markantes dreieckiges Profil.

Ein Element der explosiv-reaktiven Panzerung (ERA) besteht aus einer Platte aus hochexplosivem Sprengstoff, die zwischen zwei Platten, in der Regel aus Metall, eingelegt ist, den sogenannten reaktiven oder dynamischen Elementen. Bei einem Angriff mit einer durchdringenden Waffe detoniert der Sprengstoff und treibt die Metallplatten gewaltsam auseinander, um den Eindringling zu beschädigen. Bei einer Hohlladung unterbrechen die vorstehenden Platten den metallischen Strahleindringling, so dass eine größere Bahnlänge des zu durchdringenden Materials entsteht. Gegen einen Penetrator mit kinetischer Energie dienen die geschleuderten Platten dazu, den Stab abzulenken und aufzubrechen.

Die Unterbrechung wird auf zwei Mechanismen zurückgeführt. Erstens verändern die beweglichen Platten die effektive Geschwindigkeit und den Auftreffwinkel des Hohlladungsstrahls, wodurch sich der Auftreffwinkel verringert und die effektive Strahlgeschwindigkeit gegenüber dem Plattenelement erhöht. Zweitens: Da die Platten im Vergleich zur üblichen Aufprallrichtung von Hohlladungsgefechtsköpfen abgewinkelt sind, verlagert sich der Auftreffpunkt auf der Platte mit der Zeit nach außen, so dass der Strahl neue Materialplatten durchschneiden muss. Dieser zweite Effekt erhöht die effektive Plattendicke während des Aufpralls erheblich.

Detail der reaktiven Panzerung

Um gegen Geschosse mit kinetischer Energie wirksam zu sein, müssen die Panzerungen wesentlich dickere und schwerere Platten und eine entsprechend dickere Sprengstoffschicht aufweisen. Solche schweren Panzerabwehrsysteme, wie das von den Sowjets entwickelte Kontakt-5-System, können einen eindringenden Stab, der länger ist als die Panzerung tief ist, auseinander brechen, was wiederum die Durchschlagskraft erheblich verringert.

Ein wichtiger Aspekt von ERA ist die Brisanz bzw. die Detonationsgeschwindigkeit des Sprengstoffs. Ein brisanterer Sprengstoff und eine höhere Geschwindigkeit der Platte führen dazu, dass mehr Plattenmaterial in den Weg des entgegenkommenden Strahls geleitet wird, wodurch die effektive Dicke der Platte deutlich erhöht wird. Dieser Effekt ist besonders ausgeprägt bei der hinteren Platte, die sich vom Strahl entfernt und deren effektive Dicke sich bei doppelter Geschwindigkeit verdreifacht.

Image Explosive Reactive Armor.png

ERA wirkt auch explosiv geschmiedeten Geschossen entgegen, wie sie durch Hohlladungen erzeugt werden. Die Gegenexplosion muss das ankommende Geschoss so stören, dass sich sein Impuls in alle Richtungen verteilt und nicht auf das Ziel gerichtet ist, was seine Wirksamkeit stark verringert.

Explosive reaktive Panzerung wird seit den 1980er Jahren von der Sowjetunion und ihren inzwischen unabhängigen Teilstaaten geschätzt, und fast jeder Panzer, der sich heute im Bestand der osteuropäischen Streitkräfte befindet, wurde entweder für die Verwendung von ERA hergestellt oder mit ERA-Platten ausgestattet, einschließlich der T-55- und T-62-Panzer, die vor vierzig bis fünfzig Jahren gebaut wurden, aber heute noch von Reserveeinheiten verwendet werden. Die US-Armee verwendet die reaktive Panzerung bei ihren Abrams-Panzern als Teil des TUSK-Pakets (Tank Urban Survivability Kit) und bei Bradley-Fahrzeugen, und die Israelis verwenden sie häufig bei ihren in Amerika gebauten M60-Panzern.

ERA-Platten werden als Zusatzpanzerung (oder Aufsatzpanzerung) an den Teilen eines gepanzerten Kampffahrzeugs verwendet, die am ehesten getroffen werden können, in der Regel die Vorderseite (Glacis) der Wanne sowie die Vorderseite und die Seiten des Turms. Ihr Einsatz setzt voraus, dass ein Fahrzeug relativ stark gepanzert ist, um sich und seine Besatzung vor der explodierenden ERA zu schützen.

Eine weitere Komplikation beim Einsatz von Panzerfäusten ist die Gefahr, die von der Detonation einer Platte für alle Personen ausgeht, die sich in der Nähe des Panzers aufhalten, obwohl die Explosion eines hochexplosiven Panzerabwehrsprengkopfes (HEAT) bereits eine große Gefahr für alle Personen in der Nähe des Panzers darstellt. Obwohl ERA-Platten nur dazu gedacht sind, sich nach der Detonation auszuwölben, führt die kombinierte Energie des ERA-Sprengstoffs in Verbindung mit der kinetischen oder explosiven Energie des Geschosses häufig zu einer explosiven Zersplitterung der Platte. Bei der Explosion einer ERA-Platte entsteht eine beträchtliche Menge an Schrapnellen, und für umstehende Personen besteht die große Gefahr tödlicher Verletzungen. Daher muss die Infanterie bei Operationen mit kombinierten Waffen in einiger Entfernung von durch ERA geschützten Fahrzeugen operieren.

Nicht-explosive und nicht-energetische reaktive Panzerung

NERA und NxRA funktionieren ähnlich wie explosive reaktive Panzerungen, jedoch ohne die explosive Einlage. Zwei Metallplatten umschließen eine inerte Auskleidung, beispielsweise aus Gummi. Wenn der Metallstrahl einer Hohlladung auftrifft, wird ein Teil der Aufprallenergie in die inerte Auskleidungsschicht abgeleitet, und der daraus resultierende hohe Druck bewirkt eine örtlich begrenzte Biegung oder Ausbeulung der Platten im Bereich des Aufpralls. Da sich die Platten ausbeulen, verschiebt sich der Auftreffpunkt des Strahls mit der Ausbeulung der Platte, wodurch sich die effektive Dicke der Panzerung erhöht. Dieser Mechanismus ist fast identisch mit dem zweiten Mechanismus, der bei explosiven reaktiven Panzern zum Einsatz kommt, allerdings wird hier die Energie des Hohlladungsstrahls und nicht die des Sprengstoffs verwendet.

Da die innere Auskleidung nicht explosiv ist, ist die Ausbeulung weniger energiereich als bei explosiv-reaktiven Panzern und bietet daher weniger Schutz als eine ERA ähnlicher Größe. NERA und NxRA sind jedoch leichter, sicher in der Handhabung, sicherer für die Infanterie in der Nähe, können theoretisch an jedem beliebigen Teil des Fahrzeugs angebracht werden und lassen sich bei Bedarf in mehreren voneinander getrennten Lagen verpacken. Ein entscheidender Vorteil dieser Art von Panzerung besteht darin, dass sie nicht durch Tandem-Sprengkopf-Formbomben besiegt werden kann, bei denen ein kleiner vorderer Sprengkopf die ERA zur Detonation bringt, bevor der Hauptsprengkopf feuert.

Elektrische Panzerung

Die Elektropanzerung oder elektromagnetische Panzerung ist eine neuere reaktive Panzerungstechnologie. Diese Panzerung besteht aus zwei oder mehr leitfähigen Platten, die durch einen Luftspalt oder ein isolierendes Material voneinander getrennt sind und einen Hochleistungskondensator bilden. Im Betrieb lädt eine Hochspannungsquelle die Panzerung auf. Wenn ein eindringender Körper die Platten durchdringt, wird der Stromkreis geschlossen, um den Kondensator zu entladen, wobei eine große Menge Energie in den Eindringling geleitet wird, die ihn verdampfen oder sogar in ein Plasma verwandeln kann, wodurch der Angriff erheblich gestreut wird. Es ist nicht bekannt, ob diese Technologie sowohl gegen Penetratoren mit kinetischer Energie als auch gegen Hohlladungsstrahlen funktioniert, oder nur gegen letztere. Bis 2005 war diese Technologie noch auf keiner bekannten Einsatzplattform eingeführt worden.

Eine andere elektromagnetische Alternative zu ERA verwendet Schichten von elektromagnetischen Metallplatten mit Silikonabstandshaltern auf beiden Seiten. Bei der Beschädigung der Panzerung wird Elektrizität in die Platten geleitet, wodurch sie sich magnetisch zusammen bewegen. Da der Prozess mit der Geschwindigkeit der Elektrizität abläuft, bewegen sich die Platten, wenn sie von einem Projektil getroffen werden, was dazu führt, dass die Energie des Projektils abgelenkt wird, während die Energie beim Trennen der magnetisch angezogenen Platten ebenfalls abgeleitet wird.

China entwickelt eine elektrisch reaktive Panzerung für seine Panzer.

Reaktive Panzerung mit gerichteter Energie

Einige aktive Schutzsysteme, wie der italienische Scudo APS, der deutsche AMAP-ADS oder der amerikanische Iron Curtain, verfügen über Sprengstoffmodule, die Geschosse mit einer gerichteten Energieexplosion zerstören. Diese Art von Sprengstoffmodul ist vom Konzept her ähnlich wie das klassische ERA, jedoch ohne Metallplatten und mit gerichteten Energiesprengstoffen. Die Materialzusammensetzung der Sprengstoffmodule ist nicht öffentlich. Der Entwickler des AMAP-ADS behauptet, dass seine AMAP-ADS-Systeme gegen EFP und APFSDS wirksam sind.

Siehe auch

  • Verbundwerkstoff-Panzerung
  • Gurney-Gleichungen

Allgemeine Referenzen

  • Manfred Held: "Brassey's Essential Guide to Explosive Reactive Armour and Shaped Charges", Brassey 1999, ISBN 1-85753-225-2

Technik

Georgischer T-72B1 mit Reaktivpanzerung
PT-91, kampfwertgesteigerter T-72 mit reaktiver Panzerung

Die Reaktivpanzerung wird in Form von Kacheln auf die passive Stahl- oder Verbundpanzerung aufgelegt. Sie besteht aus einer Schicht Sprengstoff, die wiederum mit einer Metallplatte abgedeckt ist. Trifft ein Projektil auf die Reaktivpanzerung, explodiert die Sprengstoffschicht und schleudert die Metallplatte dem Projektil entgegen. Die Wirkung der Granate wird dadurch wenigstens teilweise kompensiert – die restliche Wirkung wird durch die passive Panzerung aufgefangen. Wichtig für eine gute Schutzwirkung ist die Abgrenzung der Kacheln zueinander, so dass bei Beschuss nur die direkt betroffenen Kacheln explodieren. Bis die entsprechenden Kacheln ersetzt sind, ist das betroffene Areal lediglich durch die passive Panzerung geschützt.

Insbesondere Hohlladungen lassen sich mit Reaktivpanzerungen gut abwehren, um den Kumulationsstrahl zu verwirbeln; allerdings wurden sogenannte Tandemhohlladungen entwickelt, um auch Reaktivpanzerungen durchdringen zu können. Gegen Wuchtgeschosse (Hartkerngeschosse) ist die klassische Reaktivpanzerung weitgehend wirkungslos.

Die während der 1980er-Jahre entwickelte Kontakt-5-Reaktivpanzerung soll gleichwohl gegen Hohlladungs-Granaten und Wuchtgeschosse (sog. KE-Penetratoren, KE = kinetische Energie) wirksam sein. Gemäß Hersteller kann Kontakt-5 die Penetrationsenergie eines APFSDS-Penetrators um bis zu 38 % senken.

Anwendung

Israelischer Kampfpanzer vom Typ M60

Die Reaktivpanzerung wird besonders in den postsowjetischen Staaten und in Israel angewandt, da die passiven Panzerungen russischer Kampfpanzer im Vergleich zu westlichen Modellen zwar leichter sind, aber dementsprechend auch weniger Schutz bieten. Nachteil der Reaktivpanzerung ist die Wirkung auf eigene Soldaten in der Nähe des Panzers, die durch die Reaktivpanzerung gegebenenfalls stärker gefährdet sind als durch den Beschuss. Um die Gefahr der Sprengstoff-Kacheln für eigene Soldaten zu verringern, werden sie von einigen Armeen in Friedenszeiten, bei Manövern und bei Konflikten mit niedrigem Gefährdungspotential abmontiert.