Notverordnung

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Nach Artikel 48 der Verfassung der Weimarer Republik (1919-1933) konnte der Reichspräsident unter bestimmten Umständen Notstandsmaßnahmen ohne vorherige Zustimmung des Reichstags ergreifen. Diese Befugnis umfasste auch den Erlass von "Notverordnungen". Dieses Gesetz ermöglichte es Reichskanzler Adolf Hitler, mit Hilfe von Erlassen des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg eine totalitäre Diktatur zu errichten, nachdem die NSDAP Anfang der 1930er Jahre an die Macht gekommen war.

Als Notverordnung wird die gesetzesvertretende Anordnung der Exekutivgewalt im Krisenfall bezeichnet. In vielen historischen und gegenwärtigen Verfassungen sind solche Instrumente regulär vorgesehen. Sind sie dagegen nicht von der bestehenden Rechtsordnung gedeckt, handelt es sich um Rechtsbruch (Verfassungskrise).

Im deutschen Sprachgebrauch bezieht sich der Begriff zumeist auf die Weimarer Reichsverfassung (WRV).

Text

Artikel 48 Artikel 48
Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten. Erfüllt ein Staat die ihm durch die Reichsverfassung oder durch die Gesetze des Reiches auferlegten Pflichten nicht, so kann der Reichspräsident ihn mit Hilfe der bewaffneten Macht dazu anhalten.
Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zweck darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen. Sind die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Deutschen Reich ernstlich gestört oder gefährdet, so kann der Reichspräsident die zu ihrer Wiederherstellung erforderlichen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der Streitkräfte. Zu diesem Zweck kann er die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 vorgesehenen Grundrechte vorübergehend ganz oder teilweise aussetzen.
Von allen gemäß Abs. 1 oder Abs. 2 dieses Artikels getroffenen Maßnahmen hat der Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstags außer Kraft zu setzen. Der Reichspräsident hat den Reichstag unverzüglich von allen Maßnahmen zu unterrichten, die gemäß Abs. 1 oder 2 dieses Artikels getroffen werden. Diese Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstages aufzuheben.
Bei Gefahr im Verzuge kann die Landesregierung für ihr Gebiet einstweilige Maßnahmen der in Abs. 2 bezeichneten Art treffen. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichspräsidenten oder des Reichstags außer Kraft zu setzen. Bei Gefahr im Verzug kann eine Landesregierung für ihr Gebiet vorläufige Maßnahmen nach Absatz 2 treffen. Diese Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichspräsidenten oder des Reichstages außer Kraft zu setzen.
Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz. Das Nähere ist durch ein Reichsgesetz zu regeln.

Geschichte

Nach dem Versailler Vertrag gab es in der Weimarer Republik zwischen 1921 und 1923 eine Zeit der Hyperinflation, dann zwischen 1923 und 1925 die Besetzung des Ruhrgebiets. Friedrich Ebert, Sozialdemokrat und erster Bundespräsident der Republik, machte 136 Mal von Artikel 48 Gebrauch, darunter auch bei der Absetzung rechtmäßig gewählter Regierungen in Sachsen und Thüringen, wenn diese sich als ungeordnet erwiesen. Am 29. August 1921 wurde eine Notverordnung erlassen, die das Tragen von kaiserlichen Militäruniformen auf derzeit dienende Angehörige der Streitkräfte beschränkte. Ebert hatte Reichskanzler Wilhelm Cuno im Rahmen von Artikel 48 erheblichen Spielraum bei der Bewältigung der Inflation und in Fragen der Reichsmark eingeräumt. Die Emminger-Reform vom 4. Januar 1924 schaffte das Schwurgerichtssystem als Tatsacheninstanz in der deutschen Justiz ab und ersetzte es durch ein gemischtes System von Richtern und Laienrichtern, das bis heute besteht.

Artikel 48 wurde 1930 von Reichspräsident Paul von Hindenburg angewandt, um die damalige Wirtschaftskrise zu bewältigen. Im Frühjahr und Sommer 1930 fand die Regierung von Reichskanzler Heinrich Brüning keine parlamentarische Mehrheit für ihr Finanzreformgesetz, das vom Reichstag abgelehnt wurde, aber die Regierung versuchte nicht ernsthaft, mit dem Parlament über einen Modus vivendi zu verhandeln. Stattdessen bat Brüning Hindenburg, sich auf Artikel 48 zu berufen, um das Gesetz als Notverordnung zu verkünden und damit Brünings Regierung zu ermächtigen, ohne die Zustimmung des Reichstags zu handeln. Als Hindenburg seine Vollmacht erteilte und die Verordnung erließ, lehnte der Reichstag die Verordnung am 18. Juli 1930 mit knapper Mehrheit ab. Mit diesem Votum der Mehrheit der Reichstagsabgeordneten wurde das Präsidialdekret gemäß Artikel 48 für ungültig erklärt. Angesichts des Zusammenbruchs der parlamentarischen Ordnung in einer Zeit, in der die wirtschaftliche Lage zum Handeln zwang, forderte Brüning Hindenburg auf, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Der Reichstag wurde daraufhin am 18. Juli aufgelöst und für den 14. September 1930 wurden Neuwahlen angesetzt.

Die Wahlen führten zu einer stärkeren Vertretung der Kommunisten und vor allem der Nationalsozialisten im Reichstag, was zu Lasten der gemäßigten bürgerlichen Parteien ging. Die Bildung einer parlamentarischen Mehrheit wurde für Brüning noch schwieriger. Allein um die normalen Regierungsgeschäfte zu führen, war er zwischen 1930 und 1932 gezwungen, sich mehrmals auf Artikel 48 zu berufen. Nachfolgende Regierungen unter den Kanzlern Franz von Papen und Kurt von Schleicher erhielten während des turbulenten Jahres 1932 von Hindenburg Dekrete gemäß Artikel 48, als sie ebenfalls keine parlamentarische Mehrheit finden konnten, da die extremistischen Parteien von links und rechts an der Macht waren.

Die Berufung auf Artikel 48 durch die aufeinanderfolgenden Regierungen besiegelte das Schicksal der Weimarer Republik. Brünings erste Notverordnung mag zwar gut gemeint gewesen sein, doch wurde die Verordnungsbefugnis zunehmend nicht mehr als Reaktion auf einen konkreten Notfall, sondern als Ersatz für die parlamentarische Führung eingesetzt. Der exzessive Gebrauch der Verordnungsgewalt und die Tatsache, dass die aufeinanderfolgenden Kanzler dem Reichstag nicht mehr verantwortlich waren, trugen wahrscheinlich wesentlich zum Verlust des Vertrauens der Öffentlichkeit in die konstitutionelle Demokratie bei, was wiederum zum Aufstieg der extremistischen Parteien führte.

Der Einsatz der Nazis

Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Da er keine Mehrheit im Reichstag hatte, bildete Hitler eine Koalition mit der nationalkonservativen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Kurze Zeit später berief er Wahlen für den 5. März ein. Sechs Tage vor der Wahl, am 27. Februar, zerstörte der Reichstagsbrand das Parlamentsgebäude in Berlin. Mit der Behauptung, der Brand sei der erste Schritt einer kommunistischen Revolution, nutzten die Nationalsozialisten den Brand als Vorwand, um den Reichspräsidenten Hindenburg zur Unterzeichnung der Reichstagsbrandverordnung, offiziell Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat, zu bewegen.

Mit dieser auf der Grundlage von Artikel 48 erlassenen Verordnung wurde die Regierung ermächtigt, die verfassungsmäßigen Rechte wie das Habeas Corpus, die freie Meinungsäußerung, die Pressefreiheit, das Versammlungsrecht und das Post-, Telegrafen- und Fernsprechgeheimnis zu beschneiden. Die verfassungsmäßigen Beschränkungen für Durchsuchungen und die Beschlagnahme von Eigentum wurden ebenfalls außer Kraft gesetzt.

Die Reichstagsbrandverordnung war einer der ersten Schritte der Nationalsozialisten auf dem Weg zur Errichtung einer Einparteiendiktatur in Deutschland. Da mehrere Schlüsselpositionen in der Regierung in den Händen der Nazis lagen und der verfassungsmäßige Schutz der bürgerlichen Freiheiten durch den Erlass aufgehoben wurde, konnten die Nazis ihre Kontrolle über die Polizei nutzen, um ihre Opposition, insbesondere die Kommunisten, einzuschüchtern und zu verhaften. Durch die Anwendung von Artikel 48 erhielt diese Repression den Stempel der Legalität.

Die Wahlen vom 5. März brachten der Nazi-DNVP-Koalition eine knappe Mehrheit im Reichstag. Dennoch gelang es den Nationalsozialisten am 23. März 1933, das Ermächtigungsgesetz mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit im Parlament zu verabschieden, wodurch die Befugnisse des Reichstags faktisch aufgehoben und in die Hände des Kabinetts (d. h. des Reichskanzlers) gelegt wurden. Dies hatte zur Folge, dass Hitler diktatorische Befugnisse erhielt.

Im Laufe der Jahre nutzte Hitler Artikel 48, um seiner Diktatur den Stempel der Legalität zu verleihen. Tausende seiner Erlasse stützten sich ausdrücklich auf die Reichstagsbrandverordnung und damit auf den Artikel 48, der es Hitler ermöglichte, unter einer Art Kriegsrecht zu regieren. Dies war einer der Hauptgründe, warum Hitler die Weimarer Verfassung nie formell aufhob, obwohl sie mit der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes faktisch außer Kraft gesetzt worden war.

Lektionen gelernt

Der Missbrauch von Artikel 48 war den Verfassern des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland noch gut in Erinnerung. Sie beschlossen, die Befugnisse des Bundespräsidenten erheblich zu beschneiden, so dass er im Gegensatz zu seinem Vorgänger in der Weimarer Republik de facto kaum über Exekutivgewalt verfügt. Um zu verhindern, dass eine Regierung auf Dekrete angewiesen ist, um ihre Geschäfte zu führen, wurde außerdem festgelegt, dass ein Bundeskanzler nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum abgesetzt werden kann. Das heißt, ein Kanzler kann nur abgewählt werden, wenn sein künftiger Nachfolger bereits über eine Mehrheit verfügt.

Artikel 48 beeinflusste auch die Verfasser der französischen Verfassung von 1958, deren Artikel 16 es dem französischen Staatspräsidenten in ähnlicher Weise ermöglicht, in Notfällen per Dekret zu regieren. Der französische Artikel enthält jedoch wesentlich stärkere Schutzvorkehrungen gegen Missbrauch: Der Präsident muss den Premierminister und die Präsidenten beider Häuser des Parlaments konsultieren, bevor er Notstandsdekrete erlässt; diese Dekrete wiederum dürfen nicht zur Aufhebung der bürgerlichen Rechte und Freiheiten verwendet werden, sondern müssen darauf abzielen, die normalen Regeln der Verfassung wiederherzustellen. Das heißt, sie können nicht als Ersatz für das Vertrauen des Parlaments dienen. Artikel 16 verbietet die Auflösung der Nationalversammlung, solange sie in Kraft ist, während das Parlament weiterhin das Recht hat, Notstandsdekrete dem Verfassungsrat vorzulegen, der sie für ungültig erklären kann, wenn die Voraussetzungen für die Inkraftsetzung des Artikels nicht mehr gegeben sind.

Auslegung

Der Wortlaut von Artikel 48 definiert weder genau die Art des Notstands, die seine Anwendung rechtfertigen würde, noch räumt er dem Präsidenten ausdrücklich die Befugnis ein, Gesetze zu erlassen, zu erlassen oder auf andere Weise zu verkünden. Eine solche inhärente Gesetzgebungsbefugnis des Präsidenten war jedoch eindeutig impliziert, da der Artikel dem Reichstag ausdrücklich die Befugnis einräumte, die Notverordnung mit einfacher Mehrheit aufzuheben. Diese parlamentarische Befugnis implizierte, dass ein Dekret entweder durch seinen ausdrücklichen Wortlaut oder durch seine Anwendung in die verfassungsmäßige Funktion des Reichstags eingreifen konnte.

Artikel 48 verpflichtete den Reichspräsidenten, den Reichstag unverzüglich über den Erlass der Notverordnung zu unterrichten, und gab dem Reichstag die Befugnis, die Notverordnung mit einfacher Mehrheit aufzuheben. Der Reichsrat, das Oberhaus, war an diesem Verfahren überhaupt nicht beteiligt. Wenn der Reichstag die Verordnung für ungültig erklärte, konnte der Reichspräsident von der Befugnis nach Artikel 25 Gebrauch machen, den Reichstag aufzulösen und innerhalb von 60 Tagen Neuwahlen auszurufen.

Deutschland

Notverordnungen in der Bundesrepublik

Der Artikel 119 des Grundgesetzes erlaubte der Bundesregierung, Notverordnungen in Flüchtlingsangelegenheiten zu erlassen ("Verordnungen mit Gesetzeskraft", zeitgenössisch tatsächlich auch Notverordnungen genannt). Diese Befugnis war eine Übergangsbestimmung, da das Themengebiet zu dringlich war, um auf das Bundesvertriebenengesetz zu warten, und besteht seit dessen Inkrafttreten nicht mehr. – Im übrigen kennt die bundesdeutsche Verfassungsordnung keine Notverordnungen; Gesetze des Bundesrates im Gesetzgebungsnotstand und solche des Gemeinsamen Ausschusses im Verteidigungsfall werden als "Gesetze" bezeichnet, wenngleich sie ebenfalls bestimmten Beschränkungen unterliegen.

Österreich

Anwendung in der Habsburgermonarchie

Als „Notstandsparagraph“ galt in der Dezemberverfassung von 1867 der Paragraph 14 des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung, welcher bei Sistierung (‚Stillstellung‘) des Parlaments der Habsburgermonarchie mehrmals in Anspruch genommen wurde.

Mark Twain verfasste im Zuge seines Österreichbesuchs (1897–99) diesbezüglich den Text Government by Article 14 („Regieren mit Paragraph 14“). Auch Karl Kraus äußerte sich häufig und kritisch zu diesem Paragraphen und nannte ihn „das dem Staate angelegte Verfassungsbruchband“.

Notbestimmungen in der Republik Österreich

Siehe Kriegswirtschaftliches Ermächtigungsgesetz und Notbestimmungen der Österreichischen Bundesverfassung