Blutaar
Der Blutaar oder Blutadler (altnordisch blóðörn) war eine mutmaßliche Form der Hinrichtung bei den Wikingern. ⓘ
Dem lebenden Opfer wurde dabei der Rücken aufgeschnitten, die Rippen beidseitig von der Wirbelsäule getrennt und – wie Adlerschwingen – zur Seite geklappt. Manche vermuten, dass noch die Lungen herausgezogen wurden. Allerdings wird die Version von anderen Wissenschaftlern verworfen, da die Lunge nach einem derart gewaltsamen Öffnen in Sekunden zusammenfallen würde. Sie gehen davon aus, dass die Schulterblätter noch mit hochgeklappt wurden. ⓘ
Der Blutaar ist in verschiedenen Sagas, Skaldengedichten und Eddaliedern als Rache an Feinden gut belegt, so zum Beispiel in der Orkneyinga saga, den Reginsmál oder der altnorwegischen Königsbiographie Heimskringla aus dem 12. Jahrhundert. Die Ragnarssona þáttr berichtet davon, dass der in England eingefallene dänische König Ragnar Lodbrok von König Ælle besiegt und in einer Schlangengrube hingerichtet wurde. Ragnars Söhne unterwarfen Ælle später und töteten diesen durch das Ritzen eines Blutadlers. ⓘ
Der Hintergrund des Rituals ist jedoch ebenso umstritten wie die Frage, ob es tatsächlich ausgeübt worden ist oder ob es vielleicht auch nur eine besonders grausam wirkende literarische Ausschmückung zur Unterhaltung der Zuhörer war. So zumindest argumentiert die Skandinavistin Roberta Frank. Andere Interpretationen sehen im Blutaar die Weiterentwicklung eines ursprünglichen Menschenopfers an den Gott Odin oder aber eine spezielle Racheform, die Söhne am Mörder ihres Vaters vollzogen. ⓘ
„Wie Frank jedoch überzeugend dargelegt hat, beruht das Motiv ‚Ritzen des Blutadlers‘ – zumindest im Falle von Ella – auf dem Missverständnis einer Strophe aus Sigvatrs Knútsdrápa (11. Jh.) in der es von der Tötung Ellas heißt: ‚Und Ívarr, der in York saß, ließ Ellas Rücken von einem Adler geschnitten werden‘ (Knútsdrápa 1; s. u. und vgl. Frank 1984, 334–339); Während andere Forscher Sigvatrs Strophe als zweiten Beleg – neben Reginsmál 26 – für das Blutadler-Motiv in der Dichtung betrachten, sieht Frank [eine Edda-Forscherin] Sigvatrs Strophe als eines der außerordentlich zahlreichen Beispiele für das Motiv ‚Vogel der Walstatt (Adler, Rabe) zerreißt den gefallenen Krieger mit den Klauen oder dem Schnabel‘, präziser: ‚der siegreiche Krieger läßt die Vögel der Walstatt die Gefallenen zerreißen‘ o.ä. (vgl. Frank 1984, 337–339; Frank 1988; Frank 1990).“
Der Blutadler war eine Methode zur rituellen Hinrichtung eines auserwählten Mitglieds, die in der späten skaldischen Dichtung beschrieben wird. Nach den beiden in den Sagas erwähnten Fällen wurden die Opfer (in beiden Fällen Mitglieder königlicher Familien) in Bauchlage gelegt, ihre Rippen mit einem scharfen Werkzeug von der Wirbelsäule abgetrennt und ihre Lungen durch die Öffnung gezogen, um ein Paar "Flügel" zu bilden. Bis in die 1980er Jahre hinein war umstritten, ob es sich bei diesem Ritus um eine literarische Erfindung, eine falsche Übersetzung der Originaltexte oder um eine authentische historische Praxis handelt. ⓘ
Berichte
Der rituelle Tötungsritus mit dem Blutadler taucht in der nordischen Literatur nur zweimal auf, außerdem gibt es schräge Anspielungen, die von einigen so interpretiert werden, dass sie sich auf denselben Brauch beziehen. Die beiden Hauptversionen haben gewisse Gemeinsamkeiten: Die Opfer sind beide Adelige (Halfdan Haaleg oder "Langbein" war ein Prinz; Ælla von Northumbria ein König), und beide Hinrichtungen erfolgten als Vergeltung für die Ermordung eines Vaters. ⓘ
Einarr und Halfdan
Es gibt zwei Quellen, die angeblich Torf-Einarrs rituelle Hinrichtung von Harald Fairhairs Sohn, Halfdan Long-Leg, im späten 9. Jahrhundert beschreiben. Beide wurden mehrere Jahrhunderte nach den geschilderten Ereignissen verfasst und existieren in verschiedenen Versionen, von denen bekannt ist, dass sie sich gegenseitig beeinflusst haben. ⓘ
In der Orkneyinga-Saga wird der Blutadler als ein Opfer für Odin beschrieben. ⓘ
Þar fundu þeir Hálfdan hálegg, ok lèt Einarr rísta örn á baki honum með sverði, ok skera rifin öll frá hrygginum ok draga þar út lúngun, ok gaf hann Óðni til sigrs sèr.
Einarr ließ sie mit dem Schwert einen Adler auf seinen Rücken schnitzen und die Rippen ganz vom Rückgrat abschneiden und die Lungen herausziehen und gab ihn Odin für den Sieg, den er errungen hatte. ⓘ
Snorri Sturlusons Heimskringla enthält einen Bericht über dasselbe Ereignis, das in der Orkneyinga saga beschrieben wird, wobei Einarr die Tat tatsächlich selbst ausführte:
Þá gékk Einarr jarl til Hálfdanar; hann reist örn á baki honum með þeima hætti, at hann lagði sverði á hol við hrygginn ok reist rifin öll ofan alt á lendar, dró þar út lungun; var þat bani Hálfdanar.
Danach ging Graf Einarr zu Halfdan und schnitt ihm den "Blutadler" auf den Rücken, indem er ihm sein Schwert durch das Rückgrat in die Brust stieß und alle Rippen bis zu den Lenden durchtrennte und dann die Lunge herauszog; und das war Halfdans Tod. ⓘ
Die Söhne von Ragnar Lodbrok und König Ælla von Northumbria
In Þáttr af Ragnars sonum (die "Erzählung von Ragnars Söhnen") hat Ivar der Gebeinlose König Ælla von Nordumbrien gefangen genommen, der Ivars Vater Ragnar Loðbrók getötet hatte. Die Tötung von Ælla nach einer Schlacht um die Kontrolle über York wird folgendermaßen beschrieben:
Sie ließen den blutigen Adler auf den Rücken von Ælla schnitzen, schnitten alle Rippen von der Wirbelsäule ab und rissen ihm die Lunge heraus. ⓘ
Der Blutadler wird von dem Dichter Sigvatr Þórðarson aus dem 11. Jahrhundert erwähnt, der zwischen 1020 und 1038 einen skaldischen Vers namens Knútsdrápa verfasste, in dem Ivar der Gebeinlose als derjenige beschrieben wird, der Ælla tötete und ihm anschließend den Rücken aufschnitt. ⓘ
Der skaldische Vers von Sighvatr in Altnordisch:
Original Wörtliche Übersetzung Vorgeschlagene Neuordnung Ok Ellu bak,
Bei lét hinn's sat,
Ívarr, ara,
Iorví, skorit.Und Ella ist zurück,
at hatte den, der wohnte
Ívarr, mit Adler,
York, schneiden.Und Ívarr, der
der in York wohnte,
ließ Ellas Rücken
mit [einem] Adler schneiden.
Skaldische Verse, ein gängiges Medium der nordischen Dichter, sollten kryptisch und anspielungsreich sein, und die idiomatische Natur von Sighvatrs Gedicht als Beschreibung dessen, was als Blutadler bekannt geworden ist, ist eine Angelegenheit von historischer Kontroverse, besonders da der Adler in der nordischen Bildsprache stark mit Blut und Tod assoziiert wurde. ⓘ
Saxo Grammaticus erzählt in den Gesta Danorum Folgendes über Bjørn und Sigvard, die Söhne von Ragnar Lodbrok und König Ælla:
Idque statuto tempore exsecuti, comprehensi ipsius dorsum plaga aquilam figurante affici iubent, saevissimum hostem atrocissimi alitis signo profligare gaudentes. Nec vulnus impressisse contenti, laceratam salivere carnem.
... Dies taten sie zur festgesetzten Zeit; und als sie ihn gefangen genommen hatten, befahlen sie, ihm die Gestalt eines Adlers in den Rücken zu schneiden, und freuten sich, ihren unbarmherzigsten Feind zu vernichten, indem sie ihn mit dem grausamsten aller Vögel markierten. Sie begnügten sich nicht damit, ihm eine Wunde zuzufügen, sondern salzten das zerfleischte Fleisch. ⓘ
Andere Berichte
Ein weiterer möglicher indirekter Hinweis auf den Ritus erscheint in Norna-Gests þáttr. Es gibt zwei Strophen am Ende des Abschnitts 6, "Sigurd erschlug die Söhne Hundings", in denen eine Figur, die frühere Ereignisse beschreibt, sagt:
Nú er blóðugr örn
breiðum hjörvi
bana Sigmundar
á baki ristinn.
Fár var fremri,
sá er fold rýðr,
hilmis nefi,
ok hugin gladdi.Nun der Blutadler
Mit einem breiten Schwert
Der Mörder von Sigmund
Auf dem Rücken geschnitzt.
Wenige waren tapferer
Als die Truppen sich zerstreuten
Ein Häuptling des Volkes
Der den Raben froh machte.
(Das mit "Rabe" übersetzte Wort ist nicht hrafn, sondern hugin, der persönliche Name eines von Odins Raben.) ⓘ
Echtheit
Es ist umstritten, ob der Blutadler historisch praktiziert wurde oder ob er eine literarische Erfindung der Autoren war, die die Sagen niederschrieben. Es gibt keine zeitgenössischen Berichte über den Ritus, und die spärlichen Hinweise in den Sagas stammen mehrere hundert Jahre nach der Christianisierung Skandinaviens. ⓘ
In den 1970er Jahren unterstützte Alfred Smyth die Historizität des Ritus und erklärte, es handele sich eindeutig um Menschenopfer für den nordischen Gott Odin. Er bezeichnete St. Dunstans Beschreibung der Tötung der Ælla als einen "genauen Bericht über einen Körper, der dem Ritual des Blutadlers unterzogen wurde". ⓘ
Roberta Frank überprüfte die historischen Beweise für den Ritus in ihrem Buch "Viking Atrocity and Skaldic Verse: The Rite of the Blood-Eagle" (Der Ritus des Blutadlers), wo sie schreibt: "Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts wurden die verschiedenen Sagenmotive - Adlerskizze, Rippenspaltung, Lungenoperation und 'salziges Stimulans' - in erfindungsreichen Sequenzen kombiniert, die auf maximalen Schrecken ausgelegt waren." Sie kommt zu dem Schluss, dass die Autoren der Sagen alliterative Kennzeichnungen missverstanden, die darauf anspielten, dass man seine Feinde mit dem Gesicht nach unten auf dem Schlachtfeld zurückließ, deren Rücken von Aasfressern als Aas zerrissen wurde. Sie verglich die reißerischen Details des Blutadlers mit christlichen Märtyrertraktaten, wie z. B. den Folterungen des Heiligen Sebastian, der von Pfeilen so durchbohrt wurde, dass seine Rippen und inneren Organe freigelegt wurden. Sie vermutet, dass diese Märtyrergeschichten zu einer weiteren Übertreibung der missverstandenen skaldischen Verse zu einem grandiosen Folter- und Todesritual ohne tatsächliche historische Grundlage führten. David Horspool hat in seinem Buch King Alfred: Burnt Cakes and Other Legends (Verbrannte Kuchen und andere Legenden) zwar nicht auf den historischen Wahrheitsgehalt des Ritus ein, sah aber ebenfalls Parallelen zu Märtyrertraktaten. Franks Aufsatz löste eine "lebhafte Debatte" aus. ⓘ
In Ronald Huttons The Pagan Religions of the Ancient British Isles: The Pagan Religions of the Ancient British Isles: Their Nature and Legacy" (Die heidnischen Religionen der alten britischen Inseln: Wesen und Erbe) stellt fest, dass der bisher berüchtigte Ritus des 'Blutadlers', bei dem ein besiegter Krieger getötet wird, indem man ihm die Rippen und die Lunge durch den Rücken herausreißt, mit ziemlicher Sicherheit ein christlicher Mythos ist, der auf einem Missverständnis eines älteren Verses beruht. ⓘ
Die Autoren einer Studie aus dem Jahr 2022 äußerten sich zwar nicht zur historischen Authentizität des Rituals, kamen aber zu dem Schluss, dass das beschriebene Ritual weder mit der Physiologie noch mit den im soziokulturellen Kontext der Wikingerzeit verfügbaren Werkzeugen unvereinbar ist. Sie kamen ferner zu dem Schluss, dass, wenn das Ritual in den extremsten Versionen, wie sie in den Sagen beschrieben werden, durchgeführt worden wäre und die gefolterte Person zu diesem Zeitpunkt noch gelebt hätte, der Tod innerhalb von Sekunden auf das Abtrennen der Rippen von der Wirbelsäule gefolgt wäre, entweder durch Ausbluten oder durch Ersticken. ⓘ